Vor 75 Jahren, an einem Junimorgen des Jahres 1896 dichtet während des
Ankleidens Carl Römer, Professor am damaligen
Mediascher Gymnasium, das vierstrophige Liebeslied „Am Hontertstreoch" in sächsischer Mundart. Erinnerungen an seine
Dorfheimat Zuckmanteln haben die entscheidende Anregung zu Inhalt
und Sprachbild („Hontertstreoch" = Holunderstrauch) geliefert.
Äm Hontertstreoch, äm Hontertstreoch,
di blät gor hisch äm Moa,
do sang e klinzich Vijeltchen
e Lid vu Läw uch Troa.
Bäm Hontertstreoch, bäm Hontertstreoch,
mer sassen Hand an Hand,
mir woren an der Moanzegt
de gläcklichsten äm Land.
Bäm Hontertstreoch, bäm Hontertstreoch,
un Uefschid geng et nea,
„Kam bald zeräk, kam bald zeräck,
meny Allerläwster tea."
Bäm Hontertstreoch, bäm Hontertstreoch,
do sätzt en treorig Med,
der Viugl schwegt, der Hontertstreoch,
die huet longhär verblät.
Einige Tage später vertont Hermann Kirchner das Lied.
Am 29.Juni 1896 wird das Lied auf einer Bezirkstagung des Gustav Adolf-Vereins in Reichesdorf
bei Mediasch von der Jugend des Dorfes
zum ersten mal öffentlich gesungen.
Rasch verbreitet es sich zu nächst im siebenbürgischen
Weinland und dann überhaupt in den sächsichen Siedlungsgebieten Siebenbürgens.
Am '6. Oktober 1896 singt Hermann Kirchner 'selbst, gelegentlich
einer Konzertreise nach Deutschland,
das Lied in der Singakademie in Berlin.
Römer hat es zu diesem Zweck
rasch vor Kirchners Abreise ins
Hochdeutsche übersetzt.
Anfang September 1897 erscheint
das Lied zum erstenmal im Druck,
und zwar als Nummer III. des l.
Heftes der „Siebenbürgisch-sächsischen Volkslieder".
Die erste Auflage von l000 Exemplaren ist in acht Wochen vergriffen.
In jenen Jahren, als Kirchner in
Hermannstadt als Chormeister den
„Rumänischen Musikverein" leitet,
wird das Lied ins Rumänische übersetzt.
Als bald verbreitet es sich im rumänischen Volk.
Bald erscheint es in Deutschland
im "Kaiserliederbuch" und im Landesliederbuch
des Allgemeinen Deutschen Sängerbundes und gewinnt
dadurch rasch grosse Verbreitung.
Ungefähr, zur selben Zeit verkauft
Hermann Kirchner das Lied dem
Musikverlag P. Pabst in Leipzig für
20 Reichsmark. Seither hat er keine
Anrechte mehr auf Einnahmen nach
dem Lied. Nicht einmal in sein später
in Breslau erscheinendes Liederalbum darf er es aufnehmen.
Um 1903 erwirbt der Wiener Komponist und Musikschriftsteller Carl
L. Heidenreich die Archivbestände
einiger aufgelöster Männergesangsvereine in Wien, Nordböhmen und
Schlesien und findet darin auch eine
vergilbte, abgegriffene Partitur mit
der Aufschrift „Im Fliederbusch, Altes
sächsisches Volkslied, Autor und
Komponist unbekannt" Heidenreich
verbessert einige „grobe Harmoniefehler",
macht aus „Fliederbusch"
„Fliederhain" und lässt das Lied mit
dem Bemerken „Nach einem altsächsischen Volksliede" aufführen.
1906 bietet er es als sein Opus 90
"Im Fliederhain" dem Musikverlag
Karl Pritsche in Leipzig an und erhält
dafür ein Honorar von 10 Kronen.
Anfang August 1912 wird Römer
durch eine Notiz im „Siebenbürgisch-
Deutschen Tageblatt" auf das durch
Heidenreich begangene Plagiat aufmerksam.
Römer wendet sich an Kirchner, Kirchner an Pabst, Pabst
an Fritzsche, Fritzsche an Heidenreich.
Angesichts der Originalpartitur des Liedes und aufgeklärt über
seine Entstehung, verspricht. Heidenreich, den „Fliederhain" aus dem
Verkehr zu ziehen.
1905—1915 veröffentlicht der Luxemburger Mundartdichter Wilhelm
Goergen, Professor für deutsche
Sprache und Literatur am staatlichen
Gymnasium in Luxemburg, das von
ihm in die luxemburgische Mundart
übertragene Lied: erstens in seinem
kleinen Bühnenstück, „Uerch Zongen Äng Zen aus dem Liewen . . ."
(Letzeburg,1905); zweitens in seinem Gedichtbuch „Hemets-Ten" (2.
Aplo, Letzeburg, 1915), mit dem Titel
„Beim Nelchesstack" (d.h.beim Fliederstrauch).
1914—1918 begleitet das Lied die
deutschen Armeen auf sämtliche
Kriegsschauplätze. Es entstehen seine ersten Umdichtungen.
Sie betreffen vor allem die vierte Strophe.
In einer gegen Kriegsende entstandenen Variante heisst es :
„Beim Holderstrauch beim Holderstrauch,
Da gibt's kein Wiederseh'n.
Er zog ins Feld und starb als Held
Für Deutschlands Millionär."
In der Nachkriegszeit steigt die
Nachfrage nach den verschiedenen
Ausgaben des "Holderstrauchs" (für
Männerchor, für gemischten Chor,
für Frauenchor, für Gesang und Klavier für Zither,
für Salonorchester, für Blasmusik usw.) in Deutschland
derart an, dass der Musikverlag P.
Pabst, Leipzig, jahrelang vom Verkauf dieses Liedes leben kann.
1926 begibt sich der Mediascher
Gymnasialdirektor Dr. Hermann Jekeli zu Studienzwecken nach England.
In einem Kreis englischer
Freunde wird er aufgefordert, ein
Volkslied seiner Heimat zu singen.
Er stimmt den „Hontertstreoch" an.
Nein, winken die Freunde ab, nicht
ein englisches — ein siebenbürgisches
Lied möchten sie von ihm hören!
Im April 1930 erfahrt Professor
Dr. Fritz Loffler, Pforzheim, zufällig
von der wahren Herkunft des
Liedes. Sogleich fasst er den Entschluss,
an Hand dieses Beispiels
seinen Schülern den sonderbaren
Weg aufzuzeigen, den Volkslieder
nehmen können. Er richtet an seine
Oberprimaner die Frage, woher sie
das Lied vom „Holderstrauch" kennen,
und erhält darauf die Antwort;
a) von Schallplatten, b) vom Zitherklub,
c) vom Dienstmädchen, d) in Schwaben gehört von
Wandervögeln, e) vom Gesangsverein, f) von der Grossmutter, die es in ihrer
Jugend in der Schule gelernt haben will. usw.
Als er ihnen den wahren Tatbestand schildert,
meinen dennoch einige, das Lied müsse dann
eben vor hundert Jahren von Deutschland nach Siebenbürgen
gewandert sein und kehre jetzt von
dort zurück, so sehr haben sie das
Gefühl der "Holderstrauch" sei ein
uraltes deutsches Volkslied.
In den 30-er Jahren ist das Lied
immer wieder im deutschen Rundfunk zu hören.
1935 wird es im Film "Zwischen Himmel und Erde" als musikalisches
Leitmotiv verwertet.
1936 gehört es zu den sechs Volksliedern, die der Musikverlag Wilhelm Gebauer,
Leipzig, als seine grossen Rundfunk und Schallplattenerfolge
bezeichnet.
1939 erhält der Dichter des Liedes
eine Karte aus Japan. Ihr Absender,
ein Europäer auf Reisen, erläutert
ihm den darauf abgebildeten Drucktext.
Es handle sich um die japanische Fassung
des Holuhderstrauchliedes. Es habe eine Reise rings um
die Welt gemacht.
'
145 singen Reichesdorferinnen in Konstantinowka
im Donbas das "Hontertstreochlied."
So oft sie es tun, summen die russischen Soldaten
und deren Frauen, die ihnen wohlbekannte Melodie gerne mit.
(Bezeugt durch Frau Liese Roth. Mediasch-Salzburg.)
Nach dem zweiten Weltkrieg entsteht als
Variante III des Holderstrauchliedes eine Verballhornung
sowohl seines Textes wie seiner Melodie,
die unter dem Titel „Ein Mutterherz" grosse Verbreitung findet.
1948 sind in Wels,Oberosterreich,
auf einem amerikanischen Fliegerhorst
einige junge Siebenbürger Sachsen als
Feuerwehrmänner eingestellt.
Während einer Mittagspause. singen sie siebenburgische
Volkslieder, darunter auch den ,,Hontertstreoch".
Daraufhin nähert sich ihnen der diensthabende
amerikanische Sergeant: „Hallo boys ! Seid
Ihr schon Amerikaner geworden, da Ihr unsere Lieder singt?
[Bezeugt durch Fritz Gross, Schässburg-Salzburg.)
1952 druckt Erich Phleps in dem
von ihm in der BRD heraus gegebenen Liederbuch
„Siebenbürgen, Land des Segens" (Kommissionsverlag Möseler, Wolfenbüttel) das Lied als Nr. 34 neuerdings im Originalsatz von Hermann Kirchner ab.
1960 gibt Frau Berta Konopka
Backnang, die jüngste, in Mediasch geborene Tochter des Komponisten
Hermann Kirchner, an, dass je vier, ihr namentlich bekannte
Schallplattenfirmen in Westdeutschland einen grossen Umsatz der beiden Platten "Beim Holderstrauch" und "Ein Mutterherz." ausweisen.
Das Lied ist sogar in einem Roman, und zwar in Erwin Strittmatters
"OIe Bienkopp" (siehe Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, 1968, S.114) aufgenommen worden. Es heisst hier: „Vater Jan fasst sich zuerst.
„Gegrüsst sei Bienkopp unter den Lebenden!"
Er spielt das Lied vom Holderstrauch und weist
Ole zwischendurch mit dem Fiedelbogen einen Sitzplatz an.
[Es folgen Verse aus dem Lied.)
Das Hontertstreoch-Lied .dürfte
demnach das am weitesten bekannte
und „gereiste" sächsische Lied sein.
Karpatenrundschau Mai 1971
Der Komponist Hermann Kirchner
In den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts bewarb sich um die Stelle eines
Chordirigenten beim Mediascher Musikverein
der 1861 in Wölfis in Thüringen geborene Musiker und Komponist Hermann Kirchner.
Der damals dreiunddreissigjährige, von einem ungeheuren Schaffensdrang beseelte Künstler scheint sich hier sogleich ausserordentlich wohlgefühlt zu haben.
Die Kontaktaufnahme mit seiner neuen Umwelt führte zu der ersehnten befruchtenden Belebung seiner musikalischen Pläne.
Der schöpferische Funke scheint geradezu schon bei der ersten Berührung mit den Menschen seiner neuen
Wahlheimat auf ihn übergesprungen zu sein. Davon legt ein Bericht seines gleichaltrigen Mediascher Freundes C.Römer ein beredtes Zeugnis ab:
"Mit ausserordentlicher Empfänglichkeit nahm der hochstrebende, hochbegabte Mann das Neue auf, das sich ihm hier bot, die eigenartige Schöpfung unserer Landschaft,
das bunte Völkergemisch, unser Volkstum in seiner besonderen Art... Er hatte seine Freude ah der ursprünglichen Kraft unserer Bauern.
Sein geradezu ungestümer Schaffensdrang trieb ihn nun an, dieses neue Erleben musikalisch auszudrücken.
Die erste Frucht dieses Neuaufblühens in seinem Wesen waren die sächsischen Volkslieder..."
Kirchner nannte seine Kompositionen mit wohlüberlegter Absicht "Siebenbürgisch-sächsische Volkslieder".
Er gab sie ab 1897 in drei ziemlich rasch aufeinander folgenden Heftchen im Vertag von G. A. Reissenherger in Mediasch heraus.
Sie enthielten insgesamt 19 Kompositionen, die zum Teil unerhört rasch unter den Sachsen Beliebtheit erlangten.
Die beiden ersten Hefte haben neun, das dritte acht Auflagen erfahren. Die Lieder sind auch heute noch lebendig und werden überall dort, wo Sachsen leben, gesungen.
In den erstaunlich fruchtbaren Mediascher Jahren komponierte Hermann Kirchner auch eine Anzahl Opern.
Die Handlung der ersten hatte er dem siebenbürgisch-sächsischen Volksleben entnommen und und zahlreiche Melodien seiner kurz vorher entstandenen Lieder dabei mitverwendet.
Sie wurde unter dem Titel „Der Herr der Hann" (später auch "Der Dorfrichter" oder „Siebenbürgische Einquartierung" genannt)
1900 in Mediasch mit grossem nachhaltigen Erfolg uraufgeführt und in Hermannstadt wiederholt. Im gleichen Jahre übersiedelte Kirchner nach Hermanhstadt,
hauptsächlich von der Hoffnung geleitet, für seine Opern bessere Aufführungsmöglichkeiten zu finden.
Tatsächlich gingen seine Opern „Stephania" 1902 und "Viola" 1904 hier zum ersten Mal über die Bretter.
In Hermannsfadt übernahm er als Nachfolger George Dimas auch die Leitung des "Rumänischen Musikvereins".
Zwischen 1906 und 1910 hielt er sich in Bukarest auf, wo sich ihm ebenfalls ein reiches Feld künstlerischer Betätigung bot.
Er versah unter anderem die Stelle eines ordentlichen Professors am Staatskonservatorium.
In seinen Werken verarbeitete er zahlreiche rumänische Motive, z.B. in dem von ihm selbst gedichteten „Rumänischen Wiegenlied" und in seinem Streichquartett a-Moll.
1910 schloss Kirchner sein Wanderleben ab und ließ sich wieder in
Deutschland nieder. Einmal noch kehrte er nach Siebenbürgen zurück, als der Mediascher Musikverein ihn 1928 einlud, eine Jubiläumsaufführung des „Herr der Hann" zu dirigieren.
Niemand ahnte, dass das Fest mit einer wahrhaft ergreifenden Ausdruckskraft den Schlusspunkt unter sein
bewegtes Künstlerleben setzte. Am 29.Dezember desselben Jahres starb er in Breslau.
Prof. Dr. Otto
Folberth
(Zugesendet
von Heinrich Bruckner)