Die Frage ist sicher berechtigt, wie weit man den Begriff Heimat fassen darf. Er ist als
solcher schwer festzulegen, viele von uns hier hat er aber mehr bewegt als andere Menschen,
die ihr Leben lang in der gleichen Landschaft oder in der gleichen Stadt gelebt haben. Nach
dem, was selbstverständlich ist, fragt man nicht. Ich bin sicher, daß jeder von uns hier sich
die Frage gestellt hat: Was ist meine Heimat, und was ist jetzt meine Heimat?
Für den einen ist es die enge Familie, die Nachbarn und die Stadt, in der er jetzt lebt. Ein
anderer kennt nur eine Heimat — Siebenbürgen. Ein dritter dagegen fühlt sich im ganzen
deutschen Sprachraum zu Hause, oder sogar in der ganzen abendländischen Kultur, "und
wiederum könnte ein vierter sagen: übi bene, ibi patria — wo es gut ist, dort ist das Vaterland.
Dazu meine Frage: Ist dort auch seine Heimat? Die Frage nach der Heimat ist eine Frage
an das Gefühl.
Mein hochverehrter Lehrer Wolf von Aichelburg sagte mir einmal, für ihn sei der Begriff
Heimat mit dem der Kindheit eng verbunden. Beide vermitteln Geborgenheit, beide leben
aus der Erinnerung, und beide, Heimat und Kindheit, werden durch die Erinnerung verklärt.
Erlauben Sie mir, es so zu sagen: Af deser lerd do äs e Land — und dort fallen für die
meisten von uns die, möglicherweise verklärten, Begriffe von Heimat und Kindheit zusammen.
Es ist die Stadt Mediasch an der großen Kokel in Siebenbürgen. Die Erinnerung an diese Stadt hat uns hier und jetzt zusammengeführt, und so darf ich Sie jetzt begrüßen: Liebe Mediascher!
Seid herzlich willkommen!
In der Bibel steht eine Seligpreisung, und die endet mit den Worten denn ihre Taten
folgen ihnen nach. Es sind nicht, nur die Taten, nicht nur das, was wir getan haben, sondern
auch das, was wir erlebt haben — Gutes und weniger Gutes, alles folgt uns nach, es hat uns
geprägt, und somit tragen wir es immer mit uns.
Wir sind im Jahr der vielen Gedenktage. Dem 9. Mai 1945 entsprach in Siebenbürgen
der. 23. August 1944, und für uns war das kein Tag der Befreiung. Im Januar .1945 folgte
dann die Verschleppung zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion. Ich habe tief beeindruckt das
Kanzelwort des Bischofs der Siebenbürger Sachsen, Herrn Dr. D. Christoph Klein, gelesen. Mit
diesem Wort wurde in allen Kirchen Siebenbürgens der Verschleppten gedacht. Wir kennen die
Zahlen jener, die verschleppt wurden, und jener, die dort starben. Aber das, was der einzelne
empfunden hat an unsagbarem Leid, an Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, darüber sagen
die Zahlen nichts. Diesem Leid und diesen Toten gebührt die gleiche Ehre und auch die gleiche
Trauer, wie allen anderen Opfern, an die in diesem fünfzigsten Jahr oft erinnert wurde.
Kann man das alles vergessen? Oder können die, welche es erlebt und überlebt haben, sich
einfach, damit abfinden, und können sie sich aussöhnen mit allem Schrecklichen und allem
Unrecht,, das ihnen angetan wurde? Sie werden es kaum können, denn die Erinnerung daran
sitzt sehr tief.
Unser Altbundespräsident Richard von Weizsäcker hat in seiner sehr beachteten Rede
zum 40. Jahrestag des 8. Mai gesagt, nur über die Erinnerung könne man zur Versöhnung
kommen. Dieses ist ein sehr anspruchsvolles Wort und kann nur für den einzelnen gelten, und
auch für den ist es eine moralische Forderung, der er kaum gewachsen ist. Im Alltäglichen und
Allzumenschlichen führt das ständige Erinnern an erlittenes Unrecht nicht zur Versöhnung,
sondern es führt zu ständigem Lamentieren und Aufrechnen, sogar zu gengenseitigem Haß,
und es verschließt den Blick auf die Zukunft.
Ich erinnere mich noch aus Siebenbürgen an die Worte, mit denen alter Hader und Streit
begraben wurden — es sind die Worte Vergeben und Vergessen. Hierzulande sagt man: Vergiß
es, und ich sage Ihnen: Vergeßt es! Der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutsch-
land, Theodor Heuss, sagte: "Vergessen können ist eine Gnade und eine Gefahr zugleich" —
soweit das Zitat. Wer nicht vergessen kann, ist dieser Gnade nicht teilhaftig. Er bleibt immer
rückwärtsgewendet.
Sie kennen die biblische Geschichte von Lot, der mit seiner Familie die böse Stadt Sodom
verließ und einer Ungewissen Zukunft entgegenging. Das Zurückblicken war ihnen verboten.
Lots Weib übertrat dieses Gebot, sie blieb stehen und blickte zurück und erstarrte, sie wurde
zu einer Salzsäule. Wir sind in einer doppelten Gefahr, zurückblickend ähnlich zu erstarren —
entweder, oft überheblich auf das fixiert, was wir einmal waren, wie tüchtig wir waren und wie
einmalig unser Gemeinwesen war, oder auch fixiert auf das, was wir verloren haben, was man
uns genommen hat und wo uns Unrecht geschehen ist. Auch diese Haltung ist verständlich,
denn auch für die, welche nicht verschleppt worden waren, wurde das Schicksal hart. Es hat
die einzelnen unterschiedlich getroffen und auch unterschiedlich geprägt. Bodenenteignung,
Einquartierungen, Enteignung der Betriebe, Schulreform, zeitweiliges Ende des deutschen
Gymnasiums in Mediasch, die verschiedenen politischen Prozesse, die der Einschüchterung
dienten, das Spitzelsystem und damit die Verdächtigung sogar der eigenen Freunde, das sind
Stichworte, die von vielen von Ihnen beliebig fortgesetzt werden können.
In den 60er Jahren kam eine gewisse Entspannung. Viele der Siebenbürger Sachsen wurden
aufgefordert und wurden Mitglieder der Rumänischen Kommunistischen Partei. Mancher hat
beruflich Karriere gemacht. Man arrangierte sich mit dem System, indem man teilnahm
am Zwiedenken und an der Lüge. Die alles durchdringende Lüge bestand darin, daß jeder,
wo immer es von ihm verlangt wurde, die Partei und ihre Politik nach außen bejahte, sie
dabei im Inneren aber zutiefst ablehnte. Ob die Unlust, die dabei aufkam, als schlechtes
Gewissen bezeichnet werden kann, weiß ich nicht. Ich weiß aber mit der Sicherheit des eigenen
subjektiven Erlebens, daß sich diese Unlust aufgestaut hat. Oft war es auch so, daß eigenes,
selbstverschuldetes Mißgeschick diesem Konto gutgeschrieben wurde, und so steigerte sich
jenes ungute Gefühl, das nach und nach übermächtig wurde.
Ab Mitte der 50er Jahre kamen die ersten Besucher aus Deutschland, es kamen die Nach-
richten vom Wirtschaftswunder, und es gab die ersten Sachen aus Deutschland. Wer erinnert
sich nicht an die Gedankenspiele, in denen man alles, was man aus Deutschland auf dem Leib
hatte, ausziehen mußte? Wieviele wären da nur mit ihrer guten alten siebenbürgischen Haut
bekleidet geblieben? Wir freuten uns über die Pakete. Es war ein angenehmes Zubrot, aber
es verstärkte das Gefühl der Unzufriedenheit und den Willen, durch eigene Arbeit dieses zu
erwerben und nicht von diesem Dauertropf abhängig zu sein.
Es dauerte nicht lange, und nach und nach gab es in Siebenbürgen nur noch ein Gespräch
— das Auswandern nach Deutschland. Die meisten Siebenbürger Sachsen hatten zu Deutsch-
land und Österreich immer ein ungebrochenes Verhältnis gehabt — vor, während und auch
nach dem Krieg. Dieses Verhältnis ist am besten durch den Begriff Mutterland zu verstehen.
Man empfand Deutschland als Mutterland, und es bestand auch jenes Urvertrauen, das man
der Mutter gegenüber empfindet. Ich muß sagen, auch heute empfinde ich das gleiche, und
ich wehre mich gegen jeden, der mir dieses Gefühl vermiesen will.
Ein solches Verhältnis bestand zu Rumänien nicht. Es bestand zu Mediasch oder zu Sie-
benbürgen. Wenn wir uns aber an Klein-Kopisch erinnern und an den konkreten sozialisti-
schen Alltag, merken wir, daß unsere Beziehung zur Heimatstadt nicht mehr dem Sinn dieses
Wortes entsprach.
Ich zitiere Hans Bergel: "Heimat kann (...) auf Dauer allein dort sein, wo einem das
Recht gewahrt bleibt, an ihrem Bild und in ihrem Geist schöpferisch mitgestalten zu dürfen.
Ist dies nicht mehr der Fall, verliert sie ihre Bindekraft. Nichts in uns reagiert empfindlicher
auf den gewaltsamen Eingriff von außen als unser Heimatgefühl." Soweit das Zitat.
Jeder von uns hat seine eigene Geschichte, die dann zum endgültigen Entschluß und zum
sogenannten Einreichen führte. War es die Zukunft der Kinder? Das Beispiel der anderen?
Waren es materielle Möglichkeiten oder einfach der Wunsch nach Freiheit und Reisemöglich-
keit? Schwerer noch als die Ablehnung des Kommunismus wog der Wunsch, als Deutscher
unter Deutschen zu leben.
Wer erinnert sich nicht an die berühmten Listen von Schmidt, Strauß oder Genscher, und
wieviele dunkle Adressen gab es, durch die in dunkle Kanäle oft dunkles Geld floß, um die
Ausreise zu erreichen?
Und dann waren wir hier. Ich erinnere mich deutlich, wie glücklich ich im Bus von Frank-
furt nach Nürnberg war. Später habe ich zwar nicht Blut geschwitzt, aber oft war es schwer,
und ich fühlte mich sehr verloren. Ich kann und ich will es ohne jede Einschränkung sagen, wir
sind freundlich aufgenommen worden. Das in Siebenbürgen bekannte Sprichwort Wie man
in den Wald ruft, so schallt es zuruck hat sich uns oft bestätigt. Wenn man freundlich und
offen auf die Menschen zugeht, kann man Freundlichkeit und Offenheit finden. Und es sei
ohne falsche Bescheidenheit gesagt — in Siebenbürgen galten die Mediascher als besonders
kontaktfähig, freundlich und weltoffen.
Vieles war neu und ungewohnt. Es war die erste Erfahrung mit der Demokratie. In Sie-
benbürgen herrschte seit mehr als 60 Jahren jeweils eine einzige und intolerante politische
Meinung. Zwangsläufig wurden auch wir intolerant und hatten über mancherlei eine sehr
eindeutige und oft unduldsame Meinung. Es war aber gefährlich, diese öffentlich zu äußern,
und sie wurde daher nicht in der Auseinandersetzung mit anderen Meinungen geprüft und
abgeschliffen. Es blieb Gedankenspiel, sozusagen Privatvergnügen, und man resignierte: Ich
sagte damals, skeptisch, heiter und tolerant.
In der Zeit des großen Überlegens hatte ich einmal ganz deutlich das Gefühl, es sei nicht
gut, in einem Land zu leben, wo man sich freut, wenn der Staatschef sich blamiert, und
wir freuten uns, wenn sich Ceausescu blamierte. Hier fand ich dann später, daß ein Teil der
Bevölkerung die jeweilige Regierung akzeptierte, ein anderer sie aber ablehnte. Es gab also
nicht nur eine, sondern möglicherweise viele richtige Meinungen. Mancher von uns hat sich
mit der Pluralität schwergetan. Es ist aber ein falsches Verständnis von Toleranz, den Zeit-
geist immer unwidersprochen zu akzeptieren, wie lautstark auch immer er in den Medien zu
Wort kommen mag. Die Toleranz muß vielmehr die Möglichkeit sichern, daß unterschiedliche
Meinungen sich frei aneinander messen können.
Wir können und wir sollen unsere Meinung einbringen, denn wir haben gelebte Erfahrung
und nicht nur Vorurteile im Bezug auf den Sozialismus und seine konkrete Erscheinung im
alltäglichen Leben, und wir haben Erfahrung und nicht nur Vorurteile im Bezug auf die
Möglichkeit des Zusammenlebens mit anderen Völkern, und wir wissen auch um die Probleme,
die dieses mit sich bringt.
Die Spannung, die daraus folgt, sowohl Siebenbürger Sachse als auch Bundesbürger in
Deutschland oder Osterreich zu sein, ist keinem erspart geblieben. Es geht darum, beides
gleichermaßen anzunehmen und beides gleichzeitig zu sein. Das Entweder-Oder wirkt immer
verkrampft und ist ein Zeichen von Unsicherheit. Manch einer versucht, seine siebenbürgischen
Eierschalen möglichst schnell loszuwerden, indem er seine Sprache dem hiesigen Deutsch so
ähnlich wie möglich spricht und jeden Kontakt mit Landsleuten meidet. Ein anderer kapselt
sich ausschließlich in siebenbürgischen Kreisen ab. Auch dieses ist verständlich — es ist, neben
Unsicherheit, auch Ausdruck von Heimweh. Fast jeder von uns hat dieses gekannt. Heimweh
ist ein tiefsitzendes Gefühl, dem man immer mit Achtung begegnen sollte.
Eine kleine Geschichte zeigt aber, wie eng neben dem Heimweh noch andere Gefühle
liegen können. Eine Aussiedlerfamilie hat die ersten Monate in der neuen Heimat tapfer
und erfolgreich hinter sich gebracht. Das Nötigste hatten sie schon angeschafft. Da sagte die
Familienmutter einmal mit großer Entschiedenheit: "Nea noch en Auto mät Staren" — sie
meinte den Mercedes — "und dron näst wä himen" — nichts als heim, nur nach Hause.
Haben wir unsere Heimat verloren? Nein, dieses kann man genauso wenig, wie man seine
Kindheit verlieren kann. Sie ist unverlierbar in der Vergangenheit geborgen. Aber es ist nicht
möglich, immer Kind zu bleiben, das Leben drängt vorwärts, und jeder hat und lebt und
trägt sein Schicksal. Und so erweitert und verändert sich auch das, was uns Heimat ist. Der
Garten, in dem wir gespielt haben, und die Stadt, in der wir zur Schule gingen, haben uns
geprägt, und wir werden sie nie vergessen. In der Ausbildung, im Beruf und in der eigenen
Familie kam es dann in Siebenbürgen und danach hier zu neuen Bindungen, die dem Leben
Sinn gaben und ein Gefühl von Heimat vermittelten. Um dieses zu erreichen, war immer
Mühe und persönlicher Einsatz nötig und unabdingbar. Die Begriffe Sinn finden und Heimat
finden sind deckungsgleich — und beide sind tief im Gefühl verwurzelt. Für den einen ist
dieses Gefühl begrenzt auf Haus und Familie, und für den anderen ist Heimat dort, wo er
versteht und wo er verstanden wird — und dieses im allerweitesten Sinne.
Ich möchte mit einem Zuspruch schließen. Er stammt aus dem 17. Jahrhundert aus
Amerika und hat wohl manchem Neueinwanderer Lebensmut in der neuen Heimat gegeben. Auch
für uns hat er volle Gültigkeit. Er lautet wie folgt:
Gehe gelassen mitten in Lärm und Hast und bedenke den Frieden, den die Stille
birgt.
Soweit wie möglich und ohne dich auszuliefern,
stehe in guter Beziehung zu allen Menschen.
Sprich deine Wahrheit ruhig und klar und höre andere, auch Dumme und Unwis-
sende, auch sie haben ihre Geschichte.
Meide die Lauten und Aufdringlichen, sie sind eine Plage für den Geist.
Wenn du dich mit anderen vergleichst, könntest du eitel oder verbittert werden:
denn immer wird es Menschen geben,
die erfolgreicher oder unbedeutender sind als du. Freue dich an deinen Erfolgen
genau so wie an deinen Plänen.
Bleibe beharrlich auf deinem eigenen Weg, wie bescheiden er auch sein mag,
er ist einzig dein Weg im wechselnden Geschick der Zeiten.
Sei vorsichtig in deinen Geschäften, die Welt ist voll von Betrug,
aber sei wachsam, wirkliche Tugenden zu erkennen.
Viele Menschen streiten für hohe Ziele, und überall ist das Leben voller Größe.
Dr.med. Wolfgang Jekeli
(zugesendet
von Heinrich Bruckner)