Einen Stein hätte es erweichen müssen

Erzählt von Johanna Kloos

 

Im Alter erinnern uns arge Gliederschmerzen und noch mehr der Beschwerden an die schrecklichen Jahre, die wir in unserer Jugend verschleppt in Rußland bei Kälte und härtester Arbeit verbringen mußten. Aus dieser Zeit möchte ich einiges berichten: 

Es war am 14. Januar, als unsere „Stiefbrüder" (Rumänen und Zigeuner) uns mit Knüppeln in den Händen aus Reichesdorf bei großer Kälte über die verschneite Landstraße nach Mediasch trieben. Dort wurden wir zunächst für einige Tage in der Stephan-Ludwig-Roth- Schule eingesperrt. In einer Nacht verluden sie uns dann auf dem Mediascher Bahnhof in Viehwaggons. Sie schlugen die Fenster mit Brettern zu und verriegelten die schweren Türen. Durch die Finsternis, die dabei entstand, drangen die vergeblichen Rufe der Kinder nach ihren Eltern und die der Eltern nach ihren Kindern. Es hätte einen Stein erweichen müssen. 

Auf diese schrecklichen Stunden folgte eine endlos lange Fahrt. Wir fuhren fast nur in der Nacht und standen tagsüber auf Bahnhöfen, von denen wir aber nichts sehen konnten und somit auch nicht wussten, wo wir gerade waren und wohin unsere Fahrt ging. In der Mitte des Waggons befand sich ein kleiner Gussofen, der mit Kohlen und Holzspänen erwärmt werden konnte. Darauf durften wir uns, um uns aufzuwärmen, einen Tee kochen. Dies war der ganze Komfort. Wir aßen, was wir von daheim mitgebracht hatten. Die geräucherten Schafsknochen, die uns gereicht wurden, sahen so ekelerregend aus, daß keiner davon haben wollte. Das Problem mit dem WC lösten unsere Männer, indem sie mit ihren Beilen ein Loch in den Fußboden schlugen. Dort verrichteten wir hinter hochgehobenen Decken unsere Notdurft. Die eisenbeschlagenen Türen wurden erst auf russischem Boden wieder geöffnet. Unsere Bewacher wollten sicher sein, uns vollzählig verschleppt zu haben. Wir durften nun aussteigen und verrichteten unser Geschäft am Bahndamm entlang hockend, unter der Aufsicht bewaffneter Soldaten. Dann ging es wieder weiter, bis wir an einem Abend das Ziel, dem jeder von uns mit großer Sorge entgegengesehen hatte, erreichten. Am Bahnhof von Konstantinowka ließ man uns aussteigen. Auf der langen Fahrt hatte uns die Kälte arg zugesetzt, wir hatten uns auch kaum bewegen können und merkten schon beim Aussteigen, daß unsere Glieder erstarrt waren und wir nur schlecht laufen konnten. 

Wir traten den Fußmarsch an. Die Landschaft war tief verschneit und stumm. Nur der russische Wind pfiff uns sein herbes Begrüßungslied, trieb uns den Schnee ins Gesicht und erschwerte uns das Weiterkommen. Die einen trugen, die anderen zogen oder schoben ihre schweren Koffer durch den Schnee. Jeder mußte selbst sehn, wie er vorrankam. Ich machte mir Mut, indem ich mich auf das warme Zimmer freute, wo ich mich nach den Strapazen aus- ruhen wollte. Diese Hoffnung, die mich durch den Schnee getragen hatte, wurde aber bald zunichte. Unsere Unterkunft war eine Ruine: kein Dach, keine Fenster, nur verschneite Schutthaufen hatten uns erwartet. War das ein Jammern, Weinen und Beten! Keiner glaubte die eisige Nacht zu überleben. Gott erhörte aber unsere Gebete und ließ uns durchhalten.

Am nächsten Morgen führte man uns ins Bad zur Entlausung, denn wir hatten in den Waggons Ungeziefer aufgelesen. Kopfläuse, Kleiderläuse und Wanzen waren, wie wir später  feststellen konnten, in Konstantinowka in jedem Haus. Nach der Entlausung mußten wir auch zur ärztlichen Untersuchung. Danach bekamen wir jedes Jahr eine Schutzimpfung gegen Typhus und Malaria und doch rissen diese Krankheiten viele von uns in den Tod. In der zweiten Nacht hatten wir dann wohl ein Dach über dem Kopf, aber keine Heizung. Unsere Männer machten sich gleich dran, Etagenbetten aus Eisenstangen zu bauen, in die sie Bretter legten. 

In dem Lager lebten 1200 Menschen unter denselben Verhältnissen. Die deutschen Frauen hatten einen Dolmetscher und einen russischen Offizier, dem sie unterstanden, so auch die deutschen Männer und die ungarischen Männer und Frauen. In das Gebäude führten fünf Eingänge. Durch einen gelangte man in das Krankenhaus, wo eine russische Feldscherin das Regiment führte und dabei ihr Wesen trieb. Wenn wir unter uns waren, nannten wir sie „die Ziege". Als „krank" wurde nur anerkannt, wer Fieber hatte. Die Krankenschwestern waren zwei deutsche Mädchen, denen ein Dolmetscher half. 

Das Lager war mit Stacheldraht umzäunt. Es sollte keiner auf den Gedanken kommen, abzuhauen. In der Küche arbeiteten drei Russinnen und drei deutsche Frauen. Sie hatten mit dem Zusammenstellen des Menüs keine Mühe und Kochbücher waren überflüssig. Was mußten sie schon zubereiten? Es gab täglich mittags und abends Kraut mit ein paar Tröpfchen Öl in Wasser gekocht und Rohkost wieder aus Kraut, gehobelten Karotten und grünen Tomaten. Das ganze Jahr hindurch war es immer dasselbe, nur im Frühjahr, wenn das Kraut aus war, wechselten sie und kochten Sauerampfer in Wasser und etwas später kamen die Rübenblätter dran. Von dieser Rübenblättersuppe bekamen viele von uns einen solchen Durchfall, daß sie die Ruine, die wir als WC benützten, oft nicht mehr zeitgerecht erreichten. Eine primitive Latrine wurde erst später aufgestellt. 

Wir waren immer sehr hungrig und verkauften darum für etwas Eßbares auch von unseren Kleidern, die wir von daheim mitgebracht hatten. Dann besorgten wir uns eine Handvoll Weizenschrot und kochten uns einen Brei daraus, um nicht zu verhungern. Das Brot für den kommenden Tag wurde in der Nacht geliefert. Die Gruppenleiterin übernahm die Zuteilung und verteilte uns die Rationen gleich. Dann verschlangen wir die Hälfte davon oft schon in der Nacht, denn Hunger tut sehr weh. Wer zur Arbeit ging, bekam 700 g, wer krank war und nicht arbeitete, nur 500. Am Morgen kam unser Dolmetscher, öffnete die Zimmertür und rief:            „ Guten Morgen, aufstehen bitte!" Dann streiften wir uns rasch unsere Kleider über und liefen zum Speisesaal, um den Schwarzen Tee zu trinken. Dazu ertönte über den Lautsprecher immer das Lied „Rußland, dem Großen auf ewig verbunden". Wenn das nicht Hohn war! Und wenn ich mich noch so dagegen wehrte, prägten sich mir die Melodie und der Text langsam doch ein und verfolgen mich auch heute noch, obwohl ich das alles zu gerne vergessen möchte. Dann wurde Appell gemacht, um zu sehen, ob wir noch alle da wären, oder ob die Flüchtigen eingefangen werden müßten. Wehe denen, die es gewagt hatten durchzugehn. Sie mußten im Karzer schlafen, wo es kein Bett gab, wurden geschlagen und während der Arbeitszeit von bewaffneten Soldaten bewacht. 

Wir waren in Gruppen von 15 bis 20 Leuten eingeteilt. Eine Russin verfügte über uns. Sie trieb uns ständig mit „dawai, dawai", was soviel wie „schnell, schnell" heißt, zur Arbeit an. Uns wurden verschiedene Tätigkeiten zugeteilt. Zerstörte Fabriken mußten von Schutt und Alteisen geräumt werden. Dann mußten wir mit unseren Schaufeln neue Fundamente graben. Das war besonders schwer, denn es gab keine Kräne, die uns die riesigen Steine weggehoben hätten. Wir erledigten alles mit unseren Händen. Jede Gruppe mußte eine bestimmte Menge Erde ausheben, denn für die Arbeit war immer eine Norm festgelegt, die um jeden Preis erfüllt werden mußte. Schafften wir sie in acht Stunden nicht, wurde eben länger gear- beitet. Später teilten sie uns in kleinere Gruppen ein, weil es in allen Teilen der Fabrik Arbeitskräfte brauchte. So kamen wir auch mit Landsleuten aus Mediasch, Birthälm, Scharosch, Tobsdorf, Hetzeldorf und Pretai zusammen. Wir befreundeten uns schnell, denn überall gibt es neben sturen auch nette und liebe Menschen. 

Einige unserer Gruppen kamen in die Ziegelfabrik, andere zur Montage und wieder andere standen sogar an den Schmelzöfen. Dort war das Arbeiten besonders schwer und auch gefährlich. Die Öfen wurden auf 2900 Grad geheizt und spuckten dementsprechend hohe Temperaturen auch in einen großen Umkreis. Dort verlor unser Mitbruder A. Gustav ein Auge, F. Johann und der junge S. Friedrich wurden von den giftigen Dämpfen schwer krank und verstarben. Meine Schwester Anna verlor bei einer anderen Arbeit einen Finger. So kam viel Unheil über uns. 

Die Kleider und Schuhe, die wir von daheim mitgebracht hatten, rissen bei der schweren Arbeit, aber das kümmerte keinen, bis uns nichts anderes übrig blieb, als zu streiken: Wir blieben eines Morgens einfach im Lager und gingen nicht zur Arbeit. Als die Offiziere kamen, sagten wir ihnen, daß wir dringend Kleider brauchten. Daraufhin bekamen wir wattierte Anzüge und Schuhe, wurden gleich auf Laster gesetzt und zu den Kolchosen gefahren, wo im Oktober noch alle Früchte, das Gemüse und die Sonnenblumen zu ernten waren. 

Auf den Feldern trafen wir zu unserer größten Überraschung Volksdeutsche aus Rußland. Sie waren glücklich, noch einmal mit jemandem deutsch zu sprechen, allerdings taten wir das nur, wenn kein Russe in der Nähe war. Die jüngere Generation dieser Leute sprach nicht mehr deutsch. Diese Menschen waren schon vor 30 Jahren enteignet worden und lebten in sehr ärmlichen Verhältnissen unter kommunistischer Herrschaft. Daß ihr Schicksal uns Siebenbürger auch ereilen sollte, ahnten wir, wollten dies aber nicht wahrhaben. 

Als wir am 12. Dezember 1949 endlich wieder in unsere Heimat zurückkehrten, hatte sich auch in Reichesdorf viel verändert. Unsere Eltern waren enteignet. Man hatte sie auch geschlagen und bestohlen. 1947 war die Staatsfarm gegründet worden, wo sie und dann auch wir als Tagelöhner auf unserem eigenen Grund in harter Arbeit das tägliche Brot verdienen mußten. Unser Leben war dem der Rußlanddeutschen sehr ähnlich geworden.

Johanna Kloos

 

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