Mein Glockenturmerlebnis

Erzählt von Johanna Leonhardt, geb Stolz

 

Ich habe schon oft erzählt, daß ich sehr gerne in den Kindergarten gegangen bin. Ab meinem dritten Lebensjahr war ich, beginnend mit dem frühen Frühjahr und bis zum späten Herbst nach der Weinlese, bei Käthetante gut aufgehoben. Das ging so lange, bis ich bei ihr keine Gleichaltrigen mehr fand. 

In dem weiten, freien Hof konnte man herrlich spielen. Es waren genügend sonnige und auch schattige Plätzchen für alle da. Unser Spielgelände war nur durch das Verwaltungsgebäude des Dorfes, die Kanzlei, vom Kirchturm und der Kirche getrennt. Darum war es nicht ver- wunderlich, daß sich die große Turmuhr jede halbe Stunde bei uns melden konnte. Ich hörte das Schlagen oder ich hörte es auch nicht, wurde aber sicher mit jedem Tag neugieriger, zu erfahren, was da oben in dem Turm so geheimnisvoll lebte.

Besonders eindringlich und nicht zu überhören mahnte es von dort, wenn nach dem 12-Uhr- Schlagen die Glocke gleich einsetzte und ihr Geläute den hohen Mittag weit über das Dorf hinaus allen verkündete. Wie voll und vertraut das dröhnte! Dann stand in jedem Haus schon die Suppe auf dem Tisch und auf dem Feld suchten sie einen Platz, um im Schatten den "Eissack" (Eßsack) aufzupacken und aus dem "Böget" (Henkeltopf) zu schöpfen. Dazu brachte der Jüngste von der nahegelegenen Quelle frisches Wasser im glas Krug. Sie stärkten sich und hielten danach, auf dem Boden ausgestreckt, auch ein kurzes Schläfchen, so die Ameisen es zuließen.  

Bruder Misch war es, der Burghüter, der unsere Glocken läutete. Weiß ich seinen Nachnamen überhaupt? Hieß er nicht "Alzner" ? Für mich war er der "Bräder Misch", der "Burchhader" und Inbegriff aller Pünktlichkeit.

Wie ich mich erinnere, hatte er eine kränkliche Frau und vier nette Töchter. Die älteste war die Burghüter-Kindergarten-Jinni-Tante. Wir mochten sie sehr. Sie war auch hübsch, band immer helle Schürzen vor, hatte eine dicke Zopfkrone und hütete täglich unseren Mittagsschlaf. Dabei wehrte sie uns die Fliegen mit einem Laubwedel ab und sorgte streng, daß wir die Augen geschlossen hielten. Dann waren es die Burghüter Enni und Kathi, die mir nicht so deutlich in Erinnerung blieben, aber die vierte und jüngste unter ihnen, auf die erinnere ich mich besonders gut, das war die Hanni. Sie war älter als ich und in meinen Augen so gut wie erwachsen. 

Wenn mit allen Glocken zusammengeläutet werden sollte, sah man die ganze Familie zum Turm gehen. Die halbwüchsige Hanni durfte das Schulglöckchen aber auch schon allein läuten. Wie ich sie beneidete! Ich wünschte mir oft, ein Burghüterkind zu sein, um mit Bruder Misch zu den Glocken steigen zu dürfen. Dann hätte ich auch in das Innere des geheimnis- vollen Turmes gesehen, wo es sich hinter den Fensterlatten gleichmaßig schaukelnd hin und her bewegte. Als ich dann erfuhr, daß andere Kinder mit Hanni schon zum "Klingeln " in den Turm geklettert waren, da hielt mich nichts mehr zurück. Ich weiß noch genau, wie ich vor dem Nachmittag-Schulglöckchen-Läuten am Turm auf sie wartete, mir Mut einredete und sie dann tatsächlich bat, mich auch mitzunehmen. Und sie nahm mich mit! 

Ich höre noch heute, wie sie den großen Schlüssel geschickt in das schwere Schloß des Turmtores steckte, mit Kraft umdrehte und die Pforte aufdrückte. Wir schlüpften hinein sie sperrte hinter uns gleich wieder zu. Ein Unbefugter reichte! Unter dem Turmgewölbe schloß sie dann rechts die leichte Brettertüre auf und ging mir voraus die kleine knarrende Holzstiege hinauf. 

Wie schattig und kühl es da drinnen war! Meine Augen mußten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, bevor ich mich in den engen Treppenstollen, der in die oberen Geschosse führt zurechtfand. Zu dem außergewöhnlichen Licht gesellte sich ein noch außergewöhnlicherer Geruch. Es roch - wie soll ich sagen, wie es roch? - es roch, wie es eben nur im Reichesdorfer Turm riechen kann. Es ist mir nie mehr ein ähnlicher Geruch begegnet. Ich tastete mich an den kalten Steinen hoch und tappte über die ausgetretenen Stufen Hanni nach. 

Bald standen wir auf dem sandbedeckten Boden des dritten Turmgeschosses Durch vier enge Schießscharten, die sich nach innen in Nischen weiteten, fiel Licht auf den Sand den Jemand mit einem Rechen bearbeitet hatte, um ihn sauber zu halten. An den Rändern reihten sich frische Vogelmisthäufchen. Hanni deutete flüchtig hin und sagte: "Ja, ja, den putzen wir am Samstag wieder weg. Hier leben Fledermäuse. Schau, da oben sind sie alle'" Ich sah hinauf und erkannte in der dunkelsten Ecke etwas, das wie schwarze Pelzmützen aussah "Das sind die Fledermäuse", erklärte sie, und schon war ab und zu ein seltsames, gläsernes Piepsen zu hören. 

Sie hingen dichtgedrängt, kopfunter an den Mauersteinen. Ich erinnerte mich, daß man mir erzahlt hatte, Fledermäuse flögen den Mädchen gerne in die Haare und fürchtete gleich um meine Zöpfe. Hanni wußte es aber anders: "Die rühren sich am Tage nicht, sie fliegen nur in der Nacht und weichen allem, was sich ihnen in den Weg stellt, ganz geschickt aus. " Schon ging es über eine steile Blocktreppe weiter. Wenn ich zu meinen Fußen zwischen den Holzstufen in die Tiefe sah, regte sich etwas in meiner Magengegend. Ich verdrängte das Unbehagen. 

Die Begeisterung ließ mein Herz und den Atem immer schneller gehen. Wieder fielen schmale Lichtstreifen herein und machten mir bewußt, daß wir uns nunmehr auf einer Balkenplattform befanden, unter der die Tiefe gähnte. Das leichte Brettergeländer schien mir bei der Höhe zu wenig zuverlässig. Da stützte ich mich besser nicht ab, wich aus und näher- te mich auf der anderen Seite vorsichtig einer kleinen Schießscharte. Dort neigte ich mich etwas vor.

Tief unter mir lag der sonnige Kirchhof. Wie klein die großen Fliederbüsche von oben aus- sahen und dann erst die Gänseblümchen im Rasen! Ich hatte die Welt noch nie von so hoch oben betrachtet und mußte staunen. Von den Zweigen des Poinik-Apfelbaumes in unserem Garten und dem Scheunengerüst hatte ich schon geschaut, was war das aber schon?

Gleich knarzte die nächste Holztreppe unter unseren Tritten. Sie brachte uns in das fünfte Geschoß. Hier waren die Schießscharten schmaler und saßen tief im Ziegelmauerwerk Eine Unzahl von Lichtstreifen, die sich durch Öffnungen in den dicken Wänden und den Ritzen in den Fußböden zwängten, durchkreuzten den Raum in allen Richtungen und malten helle Lichttaler auch in die dunkelste Ecke des Turminneren.

Noch ehe die Uhr das Zeichen für das Nachmittagsleuten geben konnte, standen wir unter den Glocken. Hanni faßte das Seil mit beiden Händen, zog tief nach unten und wippte zwei- mal kurz zurück, um gleich neu anzuziehen und wieder doppelt zurück zu wippen. So ging das genau im Takt weiter: Tief hinunter und zweimal hoch, tief hinunter und zweimal hoch.

Draußen klang das Glöckchen sicher, wie es sonst auch zu hören war, aber im Turm gesellte sich zu dem hellen Ton noch ein besonderes Surren, das man an der Haut deutlich spürte. Mir blieb aber keine Zeit mehr, dies weiter zu beobachten, denn Hanni forderte mich auf, mit ihr zusammen an dem Seil zu ziehen. Nachdem sie mir den Rhythmus beigebracht hatte, merkte ich, daß sie ausließ und ich das Seil allein führte ... : Ich läutete! Ich läutete das Schulglöckchen vom hohen Turm, wie ich es mir schon immer gewünscht hatte! Kann sich jemand diese Freude vorstellen ?

Hanni fand, daß ich das ganz gut mache, übernahm aber das Seil wieder, um die Arbeit fach- gerecht abzuschließen. Sie verstand es, das Glöckchen nach einem vollen Ton zum Schweigen zu bringen. Bei meiner Unerfahrenheit hätte der Klöppel sicher noch einige Male verloren angeschlagen und damit Bruder Misch daheim verraten, daß da eine ungeübte Hand am Werk war.

" Wem man den kleinen Finger gibt, der will gleich auch die ganze Hand. " Ich sah mir die großen Glocken genau an: Eine war edler und größer als die andere. Ich konnte die Verzierungen auf ihren erzenen Mänteln deutlich sehen, weil die Jalousien der vier hohen Bogenfenster das Licht von allen Seiten einfallen ließen. Da hingen sie nun alle verankert im Glockenstuhlgebälk. Ehrfurcht und Staunen mischten sich: Wer hatte sie wohl so schön geformt, und wer hatte die Kraft gehabt, sie da oben aufzuhängen? Wie mußte es da wohl dröhnen, wenn sie an Sonn- und Feiertagen alle zugleich läuteten!

Jetzt war außer dem Knarren des riesigen Uhrwerkes über uns nichts mehr zu hören, und als hätte Hanni meine Gedanken gelesen, sagte sie: "Siehst du den Hammer dort an der großen Glocke ? Er schlägt die Stunden. Das große Uhrwerk kann ich dir aber nicht zeigen, hin darf nur der Vater gehn. "

Beim Hinaufklettern hatte mich die Neugierde angeschoben, beim Abstieg war ich nun selbst gefragt. Ich schaute nicht nach rechts und nicht nach links, sah nur zu meinen Füßen, die die nächste Treppe suchten, wie Hanni es mir angeschafft hatte. Ich erinnere mich nicht, ob ich damals in der Aufregung die Stiegen gezählt habe und kann auch nicht abschätzen, wie viele es sind, wahr ist aber, daß ich am nächsten Tag einen tüchtigen Muskelkater hatte und daß das Turmerlebnis in meinen Träumen immer wieder lebendig wird, so daß ich kaum mehr weiß, was ich erlebt oder nur geträumt habe.

Johanna Leonhardt, geb Stolz

 

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