Woher unsere Vorfahren kamen und wann sie sich an dem Ort niederließen, an dem heute Reichesdorf steht, wissen wir nicht genau. Aus den vorhandenen geschichtlichen Unterlagen läßt sich aber annehmen, daß die Ansiedlung um die Mitte des 13. Jahrhunderts erfolgte, Dieses geht aus folgenden Belegen hervor:
Es ist bekannt, daß während der Regierungszeit König Geysas II.
(1141-1162), unter
Zusicherung besonderer Rechte und Freiheiten, Siedler aus dem heutigen
Deutschland in den
Raum um Hermannstadt, den Unterwald und um Kronstadt berufen wurden. Dies
Sonderrechte der deutschen Siedler (fortan Siebenbürger Sachsen genannt)
wurden immer
wieder vom ungarischen Adel angefochten. Daher wurden die Sachsen bei König
Andreas II. (1205-1235), dem Enkel König Geysas II., vorstellig und dieser sicherte
ihnen im Jahre 1224
die einst versprochenen Rechte im "Goldenen Freibrief" schriftlich
zu. Der "Goldene
Freibrief bezog sich auf alle sächsischen Siedlergruppen von "Broos
bis Draas" und brach-
te sie so in eine Einheit, die "Hermannstädter Provinz". Der
Versuch, ein eigenes Bistum zu
gründen, scheiterte am Widerstand des siebenbürgischen Bischofs. Statt
dessen entstand in
Hermannstadt eine freie Probstei, die unmittelbar dem Erzbischof von Gran (Esztergon),
dem Vorstand der katholischen Kirche Ungarns, unterstellt war.
Durch Ausdehnung der Siedlungen der Hermannstädter Provinz, vielleicht auch
durch neue
Zuzüge von Einwanderern, entstanden im 13. Jahrhundert südlich der Großen
Kokel (dem
Weinland) und etwas westlich im Weißbachtal neue Ortschaften, die aber
nicht mehr dem
Hermannstädter Probst, sondern dem Siebenbürgischen Bischof unterstellt
waren. Zu diesen
Ortschaften hat auch Reichesdorf gehört. Diese Siedlungen tauchen unter der
Bezeichnung
der "Zwei Stühle" auf. Ob die Siedlergruppen, zu denen auch die
unserer Reichesdorfer
Vorfahren gehörten, aus der Gegend um Hermannstadt, aus den östlicher
gelegenen
Ausdehnungen bei Schäßburg und Keisd oder gar aus der Urheimat Deutschland
kamen, ist
ungewiß. Die erste Vermutung ist aber die wahrscheinlichere. Daß sich die
Gruppe, zu der
auch Birthälm und Reichesdorf zählte, dem "Mediasch-Schelker
Kapitel" anschloß und nicht
dem bereits bestehenden Keisder Kapitel, erhärtet die Annahme, daß unsere
Vorfahren nicht
aus östlicher Richtung kamen.'
Wenn wir an die Gründung Reichesdorfs denken, an den Ort, an dem sich
unsere Vorfahren
niederließen, müssen wir uns eine verwilderte Gegend vorstellen: bewaldete
Berge, ver-
sumpfte, mit Schilf und Gestrüpp bedeckte Auen, durch die es keine Wege
gab. Eine Gruppe
müder, mit den notwendigsten Habseligkeiten beladener Wanderer, macht hier
am
Zusammenfluß zweier Bäche, der vom Kremer und der aus dem Kirschtal
kommende, Rast.
Man findet auch Trinkwasser
und beschließt, nach Erkundung der Umgebung, hier, etwa 6
km südlich von Birthälm, zu siedeln. Nur ja nicht an Häuserreihen denken,
wie wir sie in
Reichesdorf kennen. Die ersten Behausungen waren bestimmt Wanderzelte,
danach notdürf-
tig aus Holz und Erde gefertigte Hütten. Man war nicht anspruchsvoll, es
ging in erster Reihe
ums Überleben und den Schutz vor Unwetter und wilden Tieren. Verwöhnt war
man auch
nicht. Man hatte in der alten Heimat viel ertragen müssen: Leibeigenschaft,
Unterdrückung
und Ausbeutung. Das Versprechen, hier frei zu sein, das Leben selbst
gestalten zu dürfen, gab
Mut und Kraft.
Der Boden wurde gerodet und der Weinberg mit mitgebrachten Reben angelegt.
Es hat ein
paar Jahrhunderte gedauert, bis die ersten steinernen Häuser entstanden.
Bestimmt wurde
gleich am Anfang auch ein befestigtes Versteck, eine Fliehburg, zum Schutz
vor eindringen-
den Feinden errichtet.
Bestimmt errichteten unsere Vorfahren gleich am Anfang, ähnlich ihren
Notunterkünften,
auch eine Stätte, an der sie zu Gott beteten. Davon zeugt die Anwesenheit
eines Priesters, den
sie gleich in den ersten Jahren hatten. Er wird in der Urkunde aus dem Jahre
1283 "Henrikus"
genannt. Vermutlich hat er der Einwanderergruppe angehört. Wo lag die erste
Kirche ? - wir
wissen es nicht.
Aus geschichtlichen Unterlagen, die sich auf alle Ortschaften dieser
Umgebung beziehen,
geht hervor, daß die ersten steinernen Gebäude in die zweite Hälfte des
14. Jahrhunderts zu
setzen sind. Dieses entspricht der Regierungszeit König Ludwig I.
(1342-1382), einer
Blütezeit des ungarischen Reiches, in der auch die sächsischen
Ortschaften, also auch
Reichesdorf, ihre Blüte feierten. Lange waren diese Häuser mit Stroh und
Schilf gedeckt, ehe
sie im 19. Jahrhundert in Reichesdorf gänzlich denen mit Ziegeldächern
wichen.
In der oben genannten Zeitspanne wurde auch mit dem Bau der Kirche begonnen,
die laut
Inschriften im Jahre 1451 fertiggestellt wurde. Auch die Wehranlage -
Ringmauer und
Türme- wurde in den folgenden 40-50 Jahren errichtet, um der immer größer
werdenden
Türkengefahr trotzen zu können.
Es waren schwere, harte Jahre, die unsere Vorfahren bis zu diesem Zeitpunkt
durchlebt
haben, aber sie waren zäh und fleißig, entschlossen dem Schicksal die
Stime zu bieten. Sie
haben uns ein Erbe hinterlassen, auf das wir stolz sein konnten.
Gewiß nicht Wandertrieb war es, der unsere Vorfahren veranlaßt hat, die
alte Heimat zu ver-
lassen. Aber das Versprechen auf Grund und Boden und auf freie
Selbstverwaltung
- Rechte und Freiheiten, die es in der alten Heimat unter Adelsherrschaft
für Leibeigene nicht
gab - haben sie den Schritt wagen lassen, in der fernen Wildnis
Siebenbürgens, im
Unbekannten, neu zu beginnen. Der Drang nach Freiheit und Entfaltung des
eigenen
Könnens haben Mut und große Schaffenskraft gezeugt: Boden wurde urbar
gemacht, ein
neuer Herd wurde angelegt, Gotteshäuser und auch Wehrburgen wurden gebaut,
um die
gewonnene Freiheit zu verteidigen.