Die Kirche und ihre Wehranlage

Erzählt von Sophia Lassner

 

Die Reichesdorfer Kirche und ihre ursprüngliche Wehranlage wurden auf einem Vorsprung, einem Ausläufer des Retterberges (im Reichesdorfer Dialekt Rätterbarch genannt) gebaut, der die beiden Täler und die beiden Bäche in der Dorfmitte trennt. Das Haupttal, das sich von Birthälm herauf in Richtung Schlattner-Hill zieht, erhält hier eine Verzweigung, das Kirchtal (im Dialekt Kerchtel) genannt. Es ist zu vermuten, daß dieser Ort sowohl aus urbanistischen als auch aus strategischen Gründen gewählt wurde. Er liegt im Mittelpunkt einer sternförmigen Verzweigung, von der aus sich die Häuserreihen ausdehnen konnten. Strategisch gesehen, war dieser Punktunter den damaligen wehrtechnischen Verhältnissen - vorteilhaft, weil er schwer zugänglich war.

Die bei der Grundlegung der Schule in einer Entfernung von etwa 40 Metern der Kirche gegenüber liegend - gefundenen geologischen Schichten, lassen darauf schließen, daß hier früher sumpfiges Gelände war, das einen Angriff von der Nordseite her nicht zuließ. So ist vielleicht auch zu erklären, warum die Wehranlage nur an der Südseite mit Wehrtürmen versehen war (von dieser Seite war ein Angriff möglich), während die ganze Rundung der Wehrmauer auf der Nord-Nordostseite ungeschützt blieb. Möglich ist auch, daß das Bachbett des Kremer-Wadelbaches ursprünglich die in der Karte eingezeichnete Führung hatte, was auch durch den Verlauf der Höhenlinien zu erklären ist. Vermutlich war die ganze Bachau versumpft.

Dies ist ein malerisch schöner Ort, an dem die Kirche einen richtigen Blickfang bildet, wenn man sich der Dorfmitte aus Richtung Birthälm nähert Wahrscheinlich hat man schon bei Baubeginn um die Mitte des 13. Jahrhunderts daran gedacht, etwas Sehenswertes zu schaffen. Die Gemeinde war wirtschaftlich stark und stand laut Statistik an 5. - 6. Stelle im Mediascher Stuhl und dieses wollte man auch zeigen. Es war der erste neue Kirchenbau im Mediascher Kapitel, vor Birthälm, Mediasch und Meschen, die wirtschaftlich stärker waren. Man wollte wohl den Beweis des Könnens liefern, der vollends gelungen ist. Um dieses zu unterstreichen, ist es wohl richtig, hier einen Fachmann, den Architekten Dr. Paul Niedermeier, zu zitieren, der am 24. Oktober 1986 in der Zeitung „Die Woche" folgendes über die Reichesdorfer Basilika schreibt:

Die Reichesdorfer Basilika

In den Mediascher Stuhl, zu dem auch Reichesdorf gehörte, kamen unsere Vorfahren erst im 13. Jahrhundert, etwas später als in die Gebietsstreifen zwischen Broos und Draas. Als sie etwa ab 1350 mit dem Bau der Kirchen beginnen konnten, waren Romanik, Frühgotik und Hochgotik schon vorbei. So entstanden in den meisten der großen Dörfer ursprünglich Basiliken, die einer frühen Phase der Spätgotik angehörten. Weil aber die Orte der Gegend, dank des Weinbaues besonders reich waren, wurden aufwendige Bauten errichtet. Man hat häufig diesen Aufwand als das Ergebnis eines unerklärten Wettstreites zwischen den Orten ausgelegt. Der im Laufe der Zeit wenig veränderte Bau in Reichesdorf gehört zu den schönsten und ist nach Victor Roth als Dorfkirche von einer beispiellosen „Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit".



Die Arbeiten daran wurden vor der Mitte des 14. Jahrhunderts in Angriff genommen. Man betraute die Bauhütte der Hermannstädter Marienkirche damit. Nach Einzelheiten und vor allem nach den Fensterformen zu urteilen, vollendete wahrscheinlich der gleiche Werkmeister (Architekt) in Hermannstadt das Querschiff und begann das Langhaus. In Scharosch an der Kokel, Eibesdorf, in Kirtsch und Bogeschdorf errichtete er die Chöre. Auch in Reichesdorf geht das Chor auf ihn zurück. Geplant waren ursprünglich auch ein schmäleres Querschiff und ein dreischiffiges Langhaus. Vom Querschiff entstanden jedoch nicht viel mehr als ein
großer Teil der Ostmauer sowie die Vierungspfeiler und -bögen, vom Langhaus vermutlich das erste Joch des Mittelschiffes.

Nach einer kurzen Unterbrechung der Bautätigkeit fügte man - unter dem Einfluss der frühen Formen der Klausenburger Michaelskirche - nördlich und südlich des Chores je eine niedere, dreiseitig geschlossene Kapelle an das Chor an.

In den folgenden Bauetappen wurde auf das ursprünglich vorgesehene Querschiff verzichtet, das Langhaus aber gegen Ende des 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts - nun wieder unter dem Einfluß Hermannstadts - zuerst auf der Süd-, dann auf der Nordseite fertiggestellt und nach und nach eingewölbt. Dabei erhielt das Mittelschiff eine größere Höhe als anfangs geplant und der alte Vierungsbogen kam dementsprechend verhältnismäßig tief unter das neue Gewölbe zu stehen. Die Chormauern mußten - damit der Bau mit einem durchgehenden Dach eingedeckt werden konnte - etwas erhöht werden. Laut einer Inschrift soll die Kirche 1451 fertiggestellt worden sein, doch sind nachher je eine Portalvorhalle auf der Süd- und Nordseite, eine Wendeltreppe, ein Dachreiter und schließlich eine neue Orgelempore hinzugekommen.

In der Konzeption des Innenraumes sind die Ähnlichkeiten mit Hermannstadt offensichtlich: Zuerst war ein einheitlicher Gesamtraum vorgesehen. Die Raumentfaltung im Mittelschiff und weiter im Chor, zum Hochaltar hin, wurde vor allem durch den Lettner eingeengt, wobei die nur wenig vorstehend geplanten Vierungsbögen diese Gliederung nur diskret in der Langhausgestaltung widerspiegeln sollten.

Eine nennenswerte Änderung brachten die beiden Seitenchöre in dieses Konzept. Da sie merklich höher als die Seitenschiffe sind, war eindeutig daran gedacht worden, die Chöre - d.h. die kultisch am meisten gebundenen Bauteile - besonders zu betonen.

Bis zum Schluß wurde jedoch dieses Vorhaben wieder fallen gelassen. Da man vom Querschiff absah, fehlte jetzt der trennende, anders ausgerichtete Raum zwischen Ostwerk und Langhaus. Letzteres wurde ostwärts verlängert und stieß nun direkt, und damit härter an die Choranlage; nur der tiefer heruntergezogene Vierungsbögen bildete vor dem Triumph- bogen ein überleitendes Element.

In Ermangelung des Querschiffes konnten die relativ hohen Seitenchöre nicht mehr organisch in das Raumgefüge eingegliedert werden, das Hauptchor hingegen, das etwas niedriger als das Mittelschiff war, erhielt nun in seiner abgeschlossenen Form, wie in Hermannstadt, einen kapellenartigen Charakter. So kam dem Hauptschiff - zwischen den Nebenaltären der Seitenschiffe, zwischen Westportal und Triumphbogen mit Lettner - eine besondere Bedeutung in der Raumausbildung zu. Dieser Bedeutung trägt seine sorgsame Gestaltung Rechnung. Die Gliederung der Hochschiffwände durch schlanke Halbsäulen, die gleiche Anordnung und ähnliche Ausbildung der Kämpfer und vieles andere gaben dem Raum ein ruhiges, geradezu eben- mäßiges Gepräge.

Die neueren Eingriffe haben dieses Raumgefüge wesentlich verändert. Als im Zusammenhang mit der Reformation der Lettner fiel, wurden die Räume von Mittelschiff und Chor zwar organisch verbunden, aber die starken Bögen gliedern ihn auch weiterhin. Da ein bedeutender Teil des Hauptschiffes durch die Orgelempore verbaut wurde, befinden sich nun die erwähnten Bögen in der Mitte der Kirche, welche durch diese Strukturierung etwas unruhiger wirkt.

Einprägsam ist auch das Äußere des Baues. Zwar ist in den Seitenansichten die Diskrepanz zwischen Seitenchören und -schiffen sehr ausgeprägt, aber die geschlossen konzipierten Ost- und Westansichten wirken, als Ausdruck des basilikalen Aufbaus, um so organischer gestaltet. Zumal die Westseite, mit ihrem etwas vortretenden, besonders reich ausgebildeten Portal und dem darüber angeordneten großen Fenster, macht den Eindruck großer Klarheit.

Nur wenige gotische Basiliken sind später nicht in Hallenkirchen umgestaltet worden. So kommt dem Reichesdorfer Westansicht-Hauptportal und Wehrturm Bau eine besondere Bedeutung zu: Seine Konzeption, in der Auswirkungen verschiedener Bauhütten innig verflochten sind, zeugt für eine wichtige Phase unserer Bau- und Kulturgeschichte.

Dr. Paul Niedermaier
Aus: Die Woche, Jg. 19, Nr.984, v. 24.0kt.l986, Seite 6

Das Thema dieses Bauwerkes ist aber damit noch nicht erschöpft. Aus einem Artikel der Buchreihe „Komm mit" zitieren wir einen anderen Fachmann, der das Künstlerische, die Vielfalt der dekorativen Steinmetzarbeiten in der Reichesdorfer Kirche, unterstreicht:

Fünf Paar Arkadenbögen verbinden Mittel- und Seitenschiffe, vier davon schließen spitzbogig ab, das fünfte an den Triumphbogen anschließende Paar ist beinahe halb- rund geschlossen und entspricht einem nahem quadratischen Gewölbejoch, das dazu bestimmt war, einen Turm zu tragen, der aber nie ausgeführt wurde. Darauf weisen auch die massiven oktogonalen Pfeiler hin, die das Joch tragen, sie sind durch breite Wandvorlagen und bis auf den Boden herabgezogene Gurtbögen verstärkt.

Hier unterbrechen wir den Verfasser, um eine Anmerkung einzufügen.

Vermutlich hat der Schreiber dieser Zeilen den Kirchenraum eingehend besichtigt, darauf deuten die abgebildeten Details. Bestimmt hat er aber den Dachboden nicht gesehen, um sich über die ursprüngliche Form des Baues zu unterrichten. Denn zu dem Turm über dem quadratischen Gewölbejoch besitzen wir einige Aufzeichnungen, die dem obigen Wortlaut widersprechen. Es sind Angaben aus der Chronik des Daniel Bruckner (1825-1911), der dazu Selbsterlebtes schreibt:

Auf unserer Kirche, da wo jetzt das kleine Türmchen steht, stand mit dicken Mauern ein Turm mit Schindeln gedeckt. Der Herr Pfarrer Josef Fabini (1845-1852 Pfarrer in Reichesdorf) zusammt des Presbyteriums erkannten es für schändlich und so beschlossen sie, ihn herunter zu nehmen. Zum Andenken wurde ein kleines Türmchen hinge- stellt. Dies geschah im Jahre 1847. Der Maurerpolier Michael Weinrich von Birthälm führte den Dachstuhl und die Mauern ab. Der Zimmermeister Orban aus Großkopisch stellte das kleine Türmchen hin, der Klempner Wolf von Birthälm deckte es. Was es gekostet hat, ist mir nicht bekannt.

Und nun weiter das Zitat aus „Komm mit", das wir unterbrochen haben:

Alle drei Schiffe sowie Haupt- und Nebenchöre tragen Kreuzgewölbe, deren steinerne Diagonalrippen sich in runden, relief geschmückten Schlußsteinen treffen, während die Gurtbögen Wappenschilder tragen:

Kein zweiter ländlicher Sakralbau Siebenbürgens ist so reich an kunstvoll gemeißelten Schlußsteinen verschiedenster Thematik und Komposition.

Die des Langhauses und der Nebenchöre haben auch eine
farbliche Fassung, während die Schlußsteine des Chores unbemalt blieben. Der von Blattwerk umgebene, seine Jungen mit dem Blute seiner Brust nährende Pelikan, über dem rechteckigen Joch des Chores, gehört mit der Bewegtheit seiner naturalistisch gestalteten Formen der Hochgotik an, wogegen das figurale Relief über dem Chorabschluß, in der streng symmetrischen, straffen Linienführung paralleler Gewandfalten noch rein romanisch anmutet.

Von vegetalen zu zoomorphen und figürlichen Kompositionen, von symbolhafter Interpretation zu rein dekorativer Auffassung, zeugen die 25 Schlußsteine der Basilika vom Ideenreichtum und Formenschatz, sächsischer Steinmetzen. Es scheint, als hätten die Reichesdorfer, die ihrer Basilika im Äußeren nicht die imponierende Wirkung des Birthälmer Monumentalbaus verleihen konnten, letzteren wenigstens in der Innenausstattung übertreffen wollen - was ihnen zweifellos gelungen ist!

Die Vielfalt und Reichhaltigkeit der Schlußsteine wiederholt sich auch in den Konsolen, von denen die Dienste der Gewölberippen aufsteigen. Pfeiler und Gurtbögen sind an den Kämpferpunkten von Kapitellfriesen und Gesimsen umgeben, in denen spätgotisches Blattwerk mit Masken und Tierformen abwechselt, alle der Natur abgelauscht, von höchster Bewegtheit, die dennoch nicht unruhig wirkt! Jeder Bewegung entspricht sogleich eine Gegenbewegung, die wellenartig oder züngelnden Flammen gleich das ganze Kapitellfries durchläuft. Brombeerblattranken, Weinreben, Sonnenblumenketten, tief ausgelappte, weichwellige Blätter, welkendem Laube gleich, winden sich die Pfeiler, die Kapitelle des Westportals - alle dem gleichen Dekorationsgedanken unterworfen, der sich zur Aufgabe stellt, dem starren Stein die Bewegung des wirklichen Lebens mitzuteilen.

So faszinierend reichhaltig ist dieser plastische Schmuck, daß er stunden-, ja tagelang vom Blick des Beschauers nachgezeichnet werden kann, ohne ihn zu ermüden. Es geht eine unerhörte Dynamik von diesen steinernen Ornamenten aus, die uns etwas vom Lebensgefühl jener Zeit nahebringen, den einzigartigen Elan nachempfinden lassen, der die Schöpfer dieser Plastik beseelte.

Mehrere Meister waren hier am Werk, einer von ihnen war unzweifelhaft auch in Hermannstadt tätig; hier wie dort gibt es eine steinerne Kanzel, deren schier identischer „Predigtstuhl" in der Reichesdorf er Sakristei und der „Ferula" der Hermannstädter Stadtpfarrkirche steht, während die Baldachine beider Kanzeln unversehrt heute noch jeweils am zweiten Pfeiler der Nordseite im Mittelschiff angebracht sind. Bisher war die Hermannstädter Kanzel als einzige in Siebenbürgen bekannt, deren Baldachin erhalten ist; ihr Reichesdorfer Gegenstück - ja man könnte ruhig Duplikat sagen - ist eine Entdeckung unserer vorjährigen Forschungsreise. Da die Kanzel nicht nach Fertigstellung des Baus eingefügt werden konnte, bietet das Vollendungsjahr 1451 für Reichesdorf ein Datum ante quemfür die Herstellungszeit beider Stücke.

Wertvollste Steinmetzarbeit ist auch die Umrahmung der Sakramentnische im Chor, in deren Ziergiebel sich das symbolische Pelikanmotiv wiederholt, Gleichnis der Selbstaufopferung. Das bedeutendste Werk besitzt Reichesdorf aber im Hauptportal der Basilika, dessen reichgegliederte Archivolte, von feinen Fialen flankiert, in einem Risalit der Westfront vorgelagert ist. Die ungemein akkurate Ausführung des ganzen Gewändes, der Kapitellfriese, der eigenartigen in betontem Relief hervortretenden Kreuzigungsgruppe des Bogenfeldes weisen die Arbeit einem einzigen Meister zu, den wir uns aus Böhmen oder Polen zugewandert denken müssen, da er den Dekorationsstil der Prager Parler-Bauhütte nach Siebenbürgen übermittelte. Das Neuartige, Bedeutende des Lünettenreliefs besteht in der deutlichen Tendenz., die Szene so realistisch wie nur möglich zu schildern, auch hier die äußere und innere Bewegung des Lebens in Haltung, Gestik, Mimik sichtbar zu machen. Das Geschehen soll so packend erzählt sein, daß der Beschauer sich gegenwärtig an den Ort der Handlung versetzt fühlt. Es ist dies ein von Böhmen ausgehender Stil, der auch eine Reihe von Werken siebenbürgischer Plastik geprägt hat.

Besonders schön ist die Gewandbearbeitung. Die Vertikalachse der Komposition bildet das Kruzifix; der schmerzlich bewegten Gruppe trauernder Frauen, zu der auch Johannes gehört, ist auf der anderen Seite des Kreuzes eine Gruppe von drei in ihrer aufrechten Haltung unbeteiligt erscheinenden Reitern gegenübergestellt, zur Wahrung der Kompositionssymmetrie und der Betonung des Kontrastes: Schmerz - Gleichgültigkeit.

Nicht unerwähnt dürfen drei übereinanderliegende Emporen im Westende des Mittelschiffs bleiben. Die ursprüngliche ist die Mittlere, wie der Schlußstein ihres Gewölbes beweist, der jenen des Mittelschiffs gleicht. Darüber errichtete man 1735 das hölzerne „Purscheglater". Beide Emporen sind über die ausgetretenen Steinstufen der im Treppentürmchen am Südwestende der Kirche aufsteigenden Wendeltreppe zugänglich. Ende des 18. Jahrhunderts wurde die dritte Empore unter- halb der ersten eingebaut, zur Aufstellung des „pneumatischen organums" aus 1788. Damals dachte man bereits nur noch praktisch; die Störung der harmonischen Raumverhältnisse war den Besitzern der neuen Orgel gleichgültig. Allerdings wirkt ihr Prospekt mit edler Barockschnitzerei in grün-goldener Farbfassung, außerordentlich vornehm.

Reichesdorf besitzt die am reichsten mit architektonischer Plastik ausgestattete sächsische Dorfkirche.



Das Vollendungsjahr der Kirche 1451 ist zwei Inschriften zu entnehmen. Die eine ist über dem Triumphbogen, die andere auf einer Philaktere, die einen Schlußstein des Mittelschiffes umgibt. Dieser Schlußstein stellt eine Schwurhand dar.
Eine andere Inschrift neueren Datums, die uns Reichesdorfem aber bestimmt vertrauter und gegenwärtiger ist, befindet sich an der Nordwand des Hauptchores. Sie gibt sowohl Aufschluß über spätere Instandhaltungsarbeiten als auch über das Bestehen und die Tätigkeit des Reichesdorfer Frauenvereines.

An der Kirche wurden im Laufe der Jahrhunderte mehrere Arbeiten durchgeführt, von denen wir die wichtigsten der uns bekannten anführen.

Im Jahre 1600 wurde nach einem Brand der Dachstuhl der Kirche erneuert, so auch im Jahre 1702, ebenfalls nach einem Brand. Im Jahre 1735 wird eine zweite Empore (über der ersten - jetzt die mittlere), uns als „Altes Purschenglaater" bekannt, errichtet, die wie die erstgebaute über die steinerne Wendeltreppe zu erreichen ist. Die untere Empore, die heute die Orgel trägt, wurde vor dem Einbau der Orgel im Jahre 1788 erstellt. Über eine weitere Arbeit gibt uns wieder die Chronik des Daniel Bruckner Auskunft, aus der wir zitieren:

1856 wird eine neue Kanzel und eine neue Tauf schale durch den Meister Pekasch, von Schäßburg gebürtig, verfertigt, 300 Gulden (C. Münzen). Die Taufschale aus Stein, die alte nur verfeinert, kostet 150 CM., unter dem Pfarrer Samuel Kenst.

Wie die Inschrift an der Nordwand des Chores belegt, wurden 1634 Renovierungsarbeiten im Chor durchgeführt. Die Instandsetzungen von 1895 trug der Reichesdorfer Frauenverein.

Nicht zu vergessen ist auch die mühevolle Arbeit der Bruderschaft, die auf Anregung von Herrn Pfarrer Heinrich Gottlieb Schneider (1957-1970 Pfarrer in Reichesdorf) geleistet wurde. Mit Stahlbürsten, Spachteln und ändern Werkzeugen wurden die dekorativen steinernen Bauelemente freigelegt, die im Laufe der Jahrhunderte unfachgerecht übertüncht worden waren. So wurde das architektonische Innenbild der Kirche wirkungsvoll aufgewertet. Die letzte größere Arbeit an der Reichesdorfer Kirche ist die äußere Renovierung im Jahre 1988. Diese Arbeit fällt in die Dienstzeit des letzten Reichesdorfer Pfarrers Hans Binder (1970- 1991 Reichesdorfer Pfarrer) und wurde von diesem mit viel persönlichem Einsatz vorangetrieben.
In der Kirche befinden sich einige Einrichtungsgegenstände von besonderem Wert:

Der Altar

Der Altar ist das Werk des Schäßburger Bildhauers und Malers Johann Folbarth aus dem Jahre 1775. Dieses geht aus einer Inschrift, die sich auf einer Kante der Mittelnische befindet, hervor. Die Kosten beliefen sich auf 568 Gulden.

Bei diesem Altar vereinigen sich Motive des Barock und des Rokoko. Die gewundenen Säulen, das kräftige Gesimse und die korinthischen Säulenkapitelle sind barock. Die aus Netzwerk und Schnörkeln bestehenden flügelartigen Ansätze, weisen auf das Rokoko hin. In der Altarmitte ist eine Nische mit einer Holzplastik des Gekreuzigten. Daneben sind in Lebensgröße die Holzfiguren Johannes des Täufers und Johannes des Evangelisten zu sehen. Beidseitig steht je eine gewundene Säule. Über jeder dieser Säulen schwebt eine Engelfigur. Das Oberbild zeigt den Heiland im Kampf mit der Teufelsschlange. Der Altar wird von einer Engelfigur in Lebensgröße gekrönt. Auf dem Altartisch steht ein schmiedeeisernes, leichtes Lesepult.

Die Orgel

Wie schon erwähnt, wurde die Orgel im Jahre 1788 aufgestellt. Soweit bekannt, ist die alte Orgel an die Gemeinde Kirtsch verkauft worden. Die Orgel hat ein Manual, ein Pedal und zwölf Register. Die notwendige Luft wurde mit Hilfe eines Blasebalges erzeugt, der mit dem Fuß getreten wurde. Dies war schon immer Aufgabe des Burghüters. In den letzten Jahren wurde er von dieser Arbeit durch einen elektrisch betriebenen Ventilator enthoben.
Aus der lateinischen Inschrift, die sich auf der Rückseite der Orgel befindet (die wir hier wiedergeben) geht hervor, daß die Orgel von Johannes Prause angefertigt und aufgestellt wurde.

 
D.O.M.S.
ORGANUM HOCCE PNEVMA- TICUM AERARII ECCLESIASTICI SUMTIBUS EXSTRUCTUM EST A.O.R. 1788 MENSE Sept. PASTORE: JOHANNE GEORGIO AUNER VILLICO: GEORGIO NEMENTZ Sen. PRO-VILLICO: JOHANNE MELTZER AEDITIUS: MARTINO SYLL Sen. et GEORGIO FERNENGEL ARTIFICE: JOHANNE PRAUSE
Inschrift auf der linken Seite (bezieht sich auf den Bau der Orgel) 
AURO VERO PICTORIO COLO- RIBUSQUE EXORNATUM ANNO 1792 MenseAugusto EODEM, QUO EXISTENTE ERE- CTUM EST PASTORE; IURARO: MARTINO FERNENGEL Sen. VILLICO: GEORGIO NEMENTZ Sen. PRO-VILLICO: MARTINO DROTLEFF AEDITIUS: ANDREA HÜGEL et MARTINO DROTLEFF ETIAM PRO-VILLICO
Inschrift auf der rechten Seite (bezieht sich auf das Orgelprospekt)


Die Inschrift gibt uns auch Aufschluß über die Ortswürdenträger Reichesdorfs von 1788. Das Prospekt der Orgel (Schauseite der Orgel - Pfeifenaufbau) wurde im Jahre 1792 erstellt. Es ist eine edle Barockschnitzerei, in grün-goldener Farbfassung, die das Ganze sehr vornehm erscheinen läßt.
In den Jahren 1909 und 1935 wurde die Orgel gründlich überholt, das letztemal durch Karl Einschenk aus Kronstadt. Dies ist aus einer Plakette über der Tastatur ersichtlich.

Sakramentnische und Kelche

Links vom Altar, in der Nordwand des Hauptchores, befindet sich eine Meßnische, deren Umrahmung wertvollste Steinmetzarbeit ist. Im Ziergiebel wiederholt sich das Pelikanmotiv, wie im Schlußstein des Chores: Der Pelikan, der seine Jungen mit dem Blut seiner Brust nährt. - Gleichnis der Aufopferung.

An dieser Stelle ist es wohl angebracht, auch die beiden Kelche aus dem Besitz der Kirche zu erwähnen und sie hier in Abbildungen zu zeigen. Es sind Zeugen siebenbürgischsächsischer Goldschmiedekunst.

Beim Betrachten dieser Abendmahlkelche drängt sich uns ein Bild auf. Wir sehen ehrwürdige Bauern und Bäuerinnen, Burschen und Mädchen in schöner Kirchentracht, dem Alter nach geordnet, vor den Altar treten, um das heilige Abendmahl zu empfangen. Ein Bild vergangener Tage!

Abendmahlkelche 
Entstehungszeit: um 1500

                 
Reichesdorf. Silber, vergoldet. Höhe 212 mm, Schalendurchmesser 105 mm, Gewicht 460gr. Reichesdorf. Silber vergoldet Höhe 210 mm, Schalendurchmesser 95 mm, Gewicht 400 gr.


Die Sakristeitür

Ein kleines Juwel der Reichesdorfer Kirche stellt die Tür zum nördlichen Nebenchor, der Sakristei, dar. Sie ist aus Lindenholz gefertigt und mit reicher, kunstvoller Einlegearbeit versehen. Unter der Jahreszahl 1516 ist auch das Reichesdorfer Wappen dargestellt: ein Reiher, der mit seinem Schnabel einen Fisch aus dem Wasser zieht, darüber ein Stern mit sechs Zacken. Interessant sind auch die hand- gefertigten Eisenbeschläge und das Schloß.

Wichtig ist noch zu erwähnen, daß diese Tür bestimmt von dem Meister gefertigt wurde, der im Jahre 1515 auch die Sakristeitür der Birthälmer Kirche hergestellt hat. Letztere wurde wegen ihrer besonders kunstvollen und komplexen Verriegelung auf der Pariser Weltausstellung von 1892 gezeigt. Die Einlegearbeiten und der mechanische Teil zeigen eindeutig, daß derselbe Meister an beiden Türen tätig war.



Das Gestühl

In der Kirche befindet sich Holzgestühl aus dem 16. Jahrhundert. Es ist mit feinen Einlegearbeiten und Schnitzereien geschmückt. Leider wurde diese wertvolle Ornamentik im Laufe der Zeit stark beschädigt.

Grabsteine in der Sakristei

In der Sakristei befinden sich zwei in Stein gehauene Grabplatten, die vor allem historischen Wert haben. Das eine Grab erinnert an den 1593 in Reichesdorf verstorbenen Pfarrer Franziskus Elisius. Im Oberteil ist der Verstorbene mit dem Kelch in der Hand dargestellt und darunter befinden sich seine Lebensdaten. Die zweite Grabplatte zeigt in reicher Ornamentik das Brustbild des 1630 verstorbenen Pfarrers Georg Peltz.

 
 Arkadenbögen mit Konsolen

Die Wehranlage

Kurz nach Fertigstellung der Kirche folgten für die Siebenbürger Sachsen, wie auch für unsere Reichesdorfer Vorfahren, schwere Zeiten. Schon während der Bauzeit der Kirche begannen 1420 die ersten Türkeneinfälle in Siebenbürgen. Raubende und plündernde türkische Reiterhorden, begleitet von ihren walachischen Vasallen, durchstreiften das Land. Diese Überfälle wurden immer häufiger, und man ging daran, Maßnahmen zu ergreifen, um sich selbst und das Lebensnotwendigste zu schützen. So wurde die Kirche etwa im Jahr 1500 mit einer Wehranlage versehen.



Es war ein einfacher Mauerring mit drei Wehrtürmen. Zwei davon stehen heute noch. Der eine ist der heutige Glockenturm vor dem Westportal der Kirche, der 1861 umgebaut und erhöht wurde. Der zweite Turm steht am Südostrand und ist in das jetzige Predigerhaus ein- bezogen. Im südlichen Burghof, der etwas geräumiger ist, stand bis 1910 noch das alte Rathaus und ein Burgfried. Da die Anlage im ebenen Gelände lag, wurde ein hoher Mauerring angelegt. An den Anschlußstellen am Westturm ist heute noch die Höhe von etwa fünf Metern zu messen. Der Westturm und der im Südosten waren für die Bewachung je einer Einfahrt zur Burg ausgelegt, was aus den noch erkennbaren Rundbögen, der Lage der Schießscharten und der Pechnasen abzuleiten ist.

Der Burgfried an der Südmauer diente in Zeiten der Belagerung dem Pfarrer als Wohnung und während des Friedens befanden sich da die Schulräume. Daß die Ringmauer an der Nordseite nicht mit Türmen verstärkt wurde, liegt wohl daran, daß die Anlage von dieser Seite nur schwer zugänglich war, weil hier vermutlich sumpfiges, überflutbares Gelände schützte.

Viel ist heute von dieser Wehranlage nicht mehr übrig geblieben. Als im Jahre 1890 die neue große Schule gebaut wurde, hat man das nötige Baumaterial dafür durch Abriß der inzwischen baufällig gewordenen und wehrtechnisch nicht mehr nutzbaren Anlage beschafft. Zuerst fiel die Nordwand den Erfordernissen zum Opfer und dann 1910/1911, als auch der Gemeindesaal gebaut wurde, der Rest: das Rathaus, der Burgfried und ein Teil der Südmauer.



Kirche: Südansicht mit Wehrturm und Rest der Ringmauer

Heute stehen nur noch der Westturm (zum Glockenturm erhöht und ausgebaut), der Südostturm, der teilweise ins Predigerhaus einbezogen ist und die Südmauer in einer Höhe von zwei Metern. Aber wir dürfen, weil Reichesdorf heute keine Burg mehr hat, das Handeln unserer Vorfahren nicht verurteilen. In ihre Lage versetzt, verstehen wir die Notwendigkeit. Die Wehranlage war zur Verteidigung nicht mehr von Nutzen, dazu baufällig, und die Instandhaltung kostete viel Geld und Arbeit. Wozu? werden sie sich gedacht haben. Man setzte auf bessere Bildung, die wirtschaftliche Vorteile brachte. Auch die Zahl der Schulpflichtigen war gestiegen. Der Burgfried war für den Schulunterricht ungeeignet. Dazu kommt noch, daß es in der Gegend um Reichesdorf fast kein Steinmaterial gibt, hatte man die Brocken doch schon durch alle Zeiten für den Bau der Kirche, der Wehranlage und der eigenen Häuser gesammelt und genutzt. So betrachtet, ist gegen das Handeln unserer Väter nichts einzuwenden. Sie haben uns früh, vor vielen anderen Ortschaften, eine der schönsten Dorfschulen aufgebaut.

Einzelheiten zum Umbau des Wehrturmes im Jahre 1861 finden wir in der Familienchronik des Daniel Bruckner.
Er schreibt, daß zur Vergabe der Arbeit am 8. Mai 1861 eine Lizitation stattgefunden hat und nennt auch die Handwerker, die diese Arbeit erstanden haben. Arbeitsbeginn war am 2. August 1861, und am 14. November desselben Jahres wurde der neue Turmknopf, der in Wien gefertigt worden war, aufgesetzt.

Durch diese Arbeit wurde die Mauer des alten Wehrturmes (Westturm) um 5 Klaftern (etwa 9,5 m) erhöht, der neue Dachstuhl bekam eine Höhe von 8 Klaftern (etwa 15 m). Die Gesamtkosten beliefen sich auf 6.540 Gulden österreichischer Währung. Daniel Bruckner nennt auch die Reichesdorfer Würdenträger unter deren Amt diese Arbeit ausgeführt wurde. Es sind: Pfarrer Josef Josefi, Richter Stefan Schuster, Kirchenväter Samuel Stolz und Daniel Bruckner (der Schreiber der Chronik).

Heute sind wir Reichesdorfer fast alle weit fort von daheim, aber die Erinnerung läßt unsere Gedanken immer wieder um die alten Türme und Mauern kreisen, die das Herz des Dorfes sind. Dort stehen Baudenkmäler, die jedem von uns höchste Ehrfurcht vor der Leistung unserer Vorfahren abverlangen.

Andreas Nemenz (+01.10.2005)

 

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