Die Stunden werde ich nie vergessen

Erzählt von Regina Meyndt geb. Lang

 

Im November 1944 hatte mein Vater durch einen hohen russischen Offizier, den er in Mediasch bei Familie Figuli kennengelernt hatte, erfahren, daß man unsere arbeitsfähigen jungen Leute rekrutieren und nach Rußland zu Aufbauarbeiten verschicken würde. 

Darunter verstanden wir eine endgültige Verschleppung, von der niemand je wieder zurükkehren würde. Auch waren wir zu der Zeit von der Propaganda noch so verblendet, daß wir glaubten, Deutschland werde mit der neuentwickelten Waffe den Krieg doch gewinnen. Somit stand für uns fest: Wir gehen nicht nach Rußland, komme, was da kommen mag! 

Es wurde beschlossen, im Geierstal im Wald einen Bunker zu bauen. Weil man nicht wußte, wie die Russen mit den Angehörigen derer verfahren würden, die sich nicht stellten, sollte die ganze Familie dort unterkommen. 

Dem Alter nach hätten von uns mein Vater, mein Mann und meine Schwester verschleppt werden sollen. Meine Mutter war schon über 35 Jahre alt, mein Bruder war jünger als 17 und ich war im sechsten Monat schwanger. 

Nun war guter Rat teuer. Was in einer schlaflosen Nacht geplant worden war, wurde schon am nächsten Morgen wieder verworfen, weil Nachrichten und Gerüchte Probleme aller Art aufwarfen, mit denen niemand gerechnet hatte. Angst und Ratlosigkeit quälten alle Leute im Dorf, es war aber zu gefährlich, die Sorgen miteinander zu teilen und gemeinsam nach Auswegen und Lösungen zu suchen. 

In diese gespannte Situation kam noch ein Ereignis, das uns auch viel Aufregung bereitete:
In der Nacht vom 10. zum 11. Dezember 1944 klopfte es an unser Fenster. Die fünfköpfige Familie Luitz stand draußen und bat um Aufnahme. Sie betrieben in Reichesdorf die Käserei, waren aber reichsdeutsche Staatsbürger und wußten, daß sie nach dem Frontenwechsel Rumäniens nichts Gutes zu erwarten hatten. Sie wohnten im Haus Nr. 138, waren unsere Nachbarn und Freunde. Nun durfte niemand wissen, daß sie sich bei uns aufhielten. 

Als sie von unserem Entschluß hörten, waren sie bereit, sich auch im Wald zu verstecken. Also gingen die Männer jeden Morgen schon um drei Uhr los, um den Bunker zu bauen und kamen erst, wenn es wieder finster war, zurück. 

Als der Tag, an dem die Sachsen verschleppt werden sollten, feststand, ging die Familie Luitz schon am 12. Januar 1945 in den Bunker. Wir folgten ihnen in der Nacht vom 13. zum 14. Januar. Im Geierstal angelangt, trauten wir unseren Augen nicht: Sie waren nicht da. Der Bunker war leer. Es war kein Werkzeug mehr da, auch vom Geschirr, das sie mitgenommen hatten, fehlte. Nun verstanden wir gar nichts mehr. Hatte man sie entdeckt und verhaftet? Hatte sie jemand gesehn und sie fürchteten, verraten zu werden? Wohin waren sie dann geflohen ? 

Alle waren erschöpft, besonders müde war unser dreieinhalbjähriger Sohn Erni. Was blieb zu tun übrig? Wir krochen in den Bunker und machten ein Feuer an. Die Unterkunft war in die Erde gegraben. Von der Wärme taute die Decke auf und es lösten sich bald größere und kleinere Brocken, die auf uns herabfielen. Dabei wurde ich so verschüttet, daß meine Leute große Mühe hatten, mich zu befreien. Ich spürte bald arge Schmerzen im Unterleib, sagte aber keinem davon. Die Probleme und Sorgen waren ohnehin schon groß genug. 

Das Rätselraten um Familie Luitz ging weiter. Wir wußten, daß sie in Schlatt die Familie Schenker gut kannten, weil deren Sohn viele Jahre bei ihnen in der Molkerei gearbeitet hatte. Darum hofften wir, sie dort zu finden. Noch in derselben Nacht wanderten wir in der Finsternis bis nach Schlatt, wo wir sie tatsächlich trafen und von Familie Schenker auch aufgenommen wurden. 

Von dort aus bauten wir uns dann in den darauffolgenden Nächten auf der Schlattner Hulla einen zweiten größeren Bunker in den dichten Wald. Wir hoben die Erde aus und überdachten jetzt mit Baumstämmen, Reisig, Erde und Laub, um einem Einsturz vorzubeugen. 

Unsere Vermutung bestätigte sich: Familie Luitz war im Geierstal tatsächlich gesehen, aber zum Glück nicht erkannt worden. Um sich und uns nicht zu gefährden, hatten sie von dort flüchten müssen. 

Es war unser Glück, daß sich zu dieser Zeit niemand in den Wald traute, weil man erzählt hatte, daß bewaffnete deutsche Soldaten sich dort versteckt hielten und auf jeden, der sich ihnen nähert, schießen würden. So konnten wir tagsüber ungestört arbeiten und kamen erst, wenn es dunkel war, wieder nach Schlatt zurück. 

In einer Woche war der Bunker fertig, aber am dritten Tag, nachdem es mich verschüttet hatte, hatte ich eine Fehlgeburt. Die Stunden werde ich nie vergessen. Wir waren mit den Kindern zwölf Personen in einem Raum. Niemand durfte wissen, wo wir waren, wir konnten darum keinen Arzt und keine Hebamme rufen. Es war ein Glück, daß Frau Schenker selber sieben Kinder zur Welt gebracht hatte. Sie nahm mich in ihr Schlafzimmer und dort gebar ich ein totes Mädchen. 

In der folgenden Nacht zogen alle in den Bunker um, nur meine Mutter blieb bei mir. Morgens fanden sich die Russen im Dorf ein, um nach versteckten Sachsen zu suchen. Herr Schenker hatte rechtzeitig davon erfahren und meine Mutter und mich in einen hohen Heuschober neben der Scheune versteckt. Den Einstieg hatte er uns oben gemacht. Wir krochen über eine hohe Leiter hinauf, er deckte uns mit Heu zu und nahm dann die Leiter wieder weg.

Wer kann sich unsere Angst vorstellen, als wir die Russen bald dicht neben uns hörten? Sie stachen mit den Bajonetten in den Heuschober, kamen aber zum Glück nicht auf den Gedanken, auch weiter oben zu suchen. Am Abend war dann die Aufregung vorbei und wir mit unseren Nerven völlig am Ende. Ich hatte bei der Fehlgeburt am Vortag viel Blut verloren und war sehr geschwächt. Noch einen solchen Tag hätte ich nicht durchstehen können. Wir baten Herrn Schenker, uns in der Nacht in die Nähe des Bunkers zu fahren. Er spannte die Pferde an, wir legten uns mit Mutter in den Wagen, er deckte uns wieder mit Heu zu und brachte uns bis zur Hulla, von wo wir dann zu Fuß zu unseren Leuten gelangten. Wir fanden sie trotz der Dunkelheit, weil ich zweimal beim Bauen mitgewesen war. Wie geborgen man sich in einem Erdloch fühlen kann, wußte ich vorher nicht. 

In dem Winter hatte es noch nicht geschneit, wir hinterließen keine Spuren und konnten auch trockenes Laub für unsere Lager sammeln. Die Schlafstellen hatten wir in einer Reihe neben- einander auf der Erde. 

In Reichesdorf kannten nur drei Personen unseren Aufenthalt: Schlosser Johann, der Bruder meiner Mutter, Kloos Johann, dessen Sohn später auch zu uns kam und Schlosser Johann vom Bach, wie man ihn nannte. Mit ihnen hatten wir großes Glück. 

Sie sorgten dafür, daß wir das Lebensnotwendige hatten und nicht aufgeben mußten, brach- ten uns einen Holzofen, eine Petroleumlampe, Kochgeschirr und zwei große Milchkannen, in denen wir das Wasser aus der Quelle vom Kremer holten. Die Sachen stellten sie unter der Hulla ab und unsere Männer schleppten sie herauf. Dann berichteten sie von den Geschehnissen im Dorf, von dem Elend, das die Aushebungen über unsere Familien gebracht hatten.

Unser Bunkerleben bekam langsam seinen eigenen Tagesablauf und Rhythmus. Die Frauen machten der Reihe nach Küchendienst, die Männer sorgten für das Holz, holten Wasser und lasen vor. Einer hatte immer Wache. Während der drei Monate hat sich aber kein Mensch dem Bunker genähert. 

Freunde, die auch unsere Tiere versorgten, schlachteten eines der Schweine und legten alles bereit. Die Lebensmittel holten wir uns einmal in der Woche nachts von daheim ab. Daß uns diese Vorräte nicht gestohlen wurden, verdanken wir dem damaligen Notar Ganea. Er hatte einen Zettel an das Tor geheftet, auf dem zu lesen war, daß der Hof Staatseigentum ist und jeder bestraft wird, der von dort etwas entwendet. 

Nach unserer Rückkehr waren unsere Ställe aber trotzdem leer und aus dem Haus fehlte das Geschirr, das Besteck, das Bettzeug und vieles andere noch. Wir hatten inzwischen aber gelernt, daß man zum Leben wirklich nicht viel braucht. 

Nun wieder zurück zum Bunkerleben: Es hatte geschneit, es war kalt, wie es sich für einen richtigen siebenbürgischen Winter schickt, und unsere Spuren im Schnee machten uns großes Kopfzerbrechen. Wenn wir von draußen zurückkamen, verwischten wir sie, so gut wir konnten, mit einem Reisigbesen. Das Wasser holten wir jetzt nicht mehr von der Quelle, weil wir uns damit sicher verraten hätten. Alles wurde mit Schneewasser gewaschen. 

Einmal unterbrach ein aufregendes Ereignis das Einerlei der Bunkertage: Wir hörten plötzlich Stimmen. Uns stockte der Atem, keiner sagte mehr ein Wort, alle lauschten angespannt. Männer waren so nahe an uns herangekommen, daß wir ihr Gespräch verstehn konnten. Sie versteigerten Bäume. Es war bald klar, daß die Gemeinde Schlatt dabei war, auf dem Gipfel Holz zu verkaufen. Die Feststellung, daß sie nicht uns suchten und verfolgten, beruhigte nur, bis sich die Angst einstellte, daß sie der Zufall gleich zum Bunker führen könnte.

Plötzlich bellte ein Hund vor der Tür. Der einzige, der noch handeln konnte, war unser kleiner Sohn. Ehe wir uns versahen, hatte er ein Stück Wurst in der Faust und lief damit hinaus. Der Vierbeiner schnappte sich den Leckerbissen, - in Siebenbürgen wurden die Hunde nicht mit Wurst gefüttert - gab keinen Laut mehr von sich und verschwand zufrieden, als ihn sein Herr zurückpfiff. Wir waren gerettet! 

Erni hatte gelernt, nur ganz. leise zu sprechen. Er flüsterte immer wieder: „Mein Prinz, ist gekommen, mein Prinz, ist gekommen!" Unser Hund daheim, den er sehr liebte, hieß Prinz,. 

Daß sich bei uns bald auch ganz. andere „Haustiere" einfanden, ließ sich nicht ändern. Wir wußten nicht mehr wohin mit unseren Lebensmitteln. Es hatten sich Mäuse eingeschlichen, die es auf die Vorräte abgesehn hatten und sich nicht wieder vertreiben ließen. 

Noch gemeiner plagten uns die Flöhe. Wo die herkamen, konnte keiner sagen. Bis wir dies merkten, waren wir schon voll davon. Sie hatten sich in dem dürren Laub schnell vermehren können und setzten uns nun arg zu. Dies waren aber die kleineren Übel. Viel zermürbender war die nervliche Belastung, der wir ausgesetzt waren: Wir saßen zu zwölft monatelang auf kleinstem Raum zusammen, ohne uns ausweichen zu können. Dies und die großen Sorgen um das weitere Leben machten alle gereizt. Um Erleichterung zu schaffen, entschloß sich Familie Luitz im Februar, im Schlattner Wald einen eigenen Bunker zu bauen und umzuziehen. Anfang März. war es dann so weit. Sie wurden dort aber leider bald entdeckt, festgenommen und in ein Lager nach Tirgu Jiu gebracht, wo die reichsdeutschen Staatsbürger interniert blieben. 

Langsam mußten wir einsehen, daß für Deutschland der Krieg verloren war und wir von dort keine Hilfe mehr zu erwarten hatten. Was stand uns aber bevor, wenn wir nach Hause zurückkamen? Würden sie uns auch festnehmen und in ein Lager stecken? Würde man uns in Ruhe lassen? Ungewißheit und Ratlosigkeit marterten uns bei Tag und Nacht. 

Zuerst zogen meine Eltern heim. Ihr Vorteil war jetzt, daß man meinen Vater in der nationalsozialistischen Zeit aus der Partei ausgeschlossen hatte, weil er nicht mit allem einver- standen gewesen war. Da ihm dies schriftlich mitgeteilt wurde, konnte das Dokument uns jetzt retten. 

Am 28. März gingen meine Eltern wieder nach Reichesdorf zurück, wir folgten ihnen erst am 2. April, nachdem sie die Lage im Ort geprüft hatten. 

Im Bunker blieben nur unsere beiden Freunde, Kloos Johann und Alzner Andreas. Der Vater von Johann brachte sie in einer Nacht zu uns. Sie waren Soldaten der deutschen Wehrmacht und hatten sich nach dem Zusammenbruch in die Heimat durchgeschlagen. Hier durften sie sich aber zuerst nicht sehen lassen, weil sie sonst verhaftet und in einem Sammellager festgehalten worden wären. 

Ich erinnere mich noch genau, daß unsere Zimmer mir damals, nach dreimonatigem Aufenthalt in einem Erdloch, wie riesige Hallen vorkamen. Es war schön, wieder daheim zu sein, und wir versuchten, die Schikanen und Demütigungen, die nie mehr enden wollten, mit Geduld hinzunehmen und zu ertragen. 

Nach unserer Rückkehr wurden uns keine besonderen Schwierigkeiten gemacht, darüber waren wir sehr froh und stürzten uns gleich in die Arbeit. Die Felder mußten angebaut wer- den, die Weingärten wollten bestellt sein, und es mangelte an Arbeitskräften. Die Verschleppung hatte große Lücken hinterlassen. 

Erst nach und nach kamen noch einige Leute, die auch untergetaucht waren, aus ihren Verstecken wieder ans Licht. 

Das Leben im Dorf mußte weitergehen, auch wenn die Widrigkeiten uns zu ersticken drohten. Nun verpflichtete der Staat uns Sachsen zu Sonderabgaben. Jeder Hof mußte 20 kg Speck und Fett liefern. Dann forderten sie Fleisch und wieder Fett. Weil wir das eigene Vieh für die Arbeit brauchten, kauften je zwei Bauern ein Rind und gaben es - ohne Entgelt! - ab. Dies zehrte unsere Geldvorräte bald auf und leerte unsere Weinfässer rasch. 

Da wir rechtlos waren, konnte außer dem rumänischen Staat auch jeder elende Zigeuner und Rumäne von uns fordern, wonach ihm gerade der Sinn stand. 

Die Reichesdorfer hatten vom Wein gelebt und gerade auf den hatten sie es nun abgesehen. Sie molken, so lange ein Tropfen im Keller war, soffen sich voll, beschimpften, prügelten und demütigten uns, wenn wir die Krüge nicht schnell und voll genug füllten. 

Auch das folgende Erlebnis ist vielen von uns unvergessen geblieben: 

An einem Sonntag wollten wir unseren Freund Schuster besuchen. Der stand vor seinem Tor und wartete auf uns, als ihn der Polizeichef, der in einem Rudel von Zigeunern die Straße herunter kam, anrief. Wir merkten gleich, daß alle betrunken waren, blieben stehn und hoff- ten, es handele sich nur um eine Auskunft. Doch weit gefehlt! Er wurde von dem Polizisten in aller Strenge aufgefortert, sich mit seinem Nachbarn, der zufällig auch auf der Straße gestanden hatte, zu prügeln. Unglaubliches spielte sich dann vor unseren Augen ab: Wenn die beiden Männer nicht fest genug aufeinander eindroschen, richtete der Bewaffnete das Gewehr auf sie, drohte zu schießen und sorgte mit dem „ Witz" dafür, daß seine Genossen sich vor Lachen bogen. Erst als sich die beiden Freunde blutig geschlagen hatten, ließ er sie stehn, und die Meute zog grölend ab. 

Trost und Ablenkung fanden wir nur in der Feldarbeit, die unsere Mühe lohnen wollte. Die Halmfrüchte, der Mais und die Kartoffeln waren in dem Jahr besonders gut geraten. Nun kam aber, was keiner glauben wollte. Unsere Acker, die schon durch Jahrhunderte Besitz unserer Ahnen gewesen waren, wurden, bevor wir sie abernten konnten, enteignet und an arbeitsunwillige Zigeuner und träge Rumänen, die immer schon lieber im Schatten gesessen hatten, aufgeteilt. Von Glück konnte der Sachse reden, der seine letzte Ernte mit dem neuen „Herrn" teilen durfte. Viele von uns mußten zusehn, wie die höhnisch alles zusammenkarrten. Wir aber hatten ein ganzes Bauernjahr lang unseren Grund umsonst bearbeitet und standen rechtlos da. Dazu erfuhren wir, daß auch unsere Häuser und Höfe enteignet werden soll- ten. Unsere „Stiefbrüder" schürten die Gerüchteküche und sorgten dafür, daß Angst und Ratlosigkeit uns nie mehr zu Ruhe kommen ließen. 

In dieser Situation wendete sich Herr Pfarrer Herberth an unseren Bischof und kam von dort mit dem Bescheid zurück, daß es diesbezüglich kein Gesetz gäbe. Es handele sich nur um Höfe, die von Deutschen verlassen worden wären. Den Leuten wurde geraten zusammenzu- halten, und alle sollten sich weigern, die Schlüssel abzugeben. Was jeder gesunde Menschenverstand zu glauben abgelehnt und für unmöglich gehalten hatte, sollte wahr werden: 

Als der Zeitpunkt für die Übergabe der Häuser und Wirtschaftsgebäude gekommen war, ver- sammelten sich die Sachsen von Reichesdorf auf dem Marktplatz, vor dem Rathaus. Sie beschlossen, die Schlüssel nicht abzugeben. Alle Häuser waren fest verriegelt. 

Aus rumänischen Nachbardörfern und Dörfern der Westkarpaten waren Besitzhungrige gekommen, um sich sächsische Höfe zuweisen zu lassen. Sie und die Dorfführung standen im Rathaus zusammen und waren über das Verhalten der Sachsen erstaunt. Damit hatten sie nicht gerechnet. 

Sie holten sich bewaffnete Milizmänner zur Verstärkung und begannen mittags bei Haus Nummer 6. Das Tor war abgesperrt und der Eigentümer nicht zu finden. Genau so fanden sie die Dinge bei den folgenden Höfen. Das Begüterungskomitee zog sich zur Beratung in die Kanzlei zurück. 

In beiden Lagern herrschte äußerste Spannung. Unsere älteren Leute setzten sich einfach auf den Boden und harrten stundenlang aus. 

Dann gingen der Herr Pfarrer und die Bauern Schlosser Johann und Stolz Gustav in das Rathaus, und baten, die schriftliche Verordnung zu dem geplanten Vorhaben einsehen zu dürfen. Durch dies Ansinnen sahen sich die Herren der Stunde so herausgefordert, daß einer von ihnen auf den Geistlichen einschlug. Der kam ans Fenster und rief um Hilfe. Damit lag auch schon ein Dröhnen in der Luft, alle schrien. Unsere jungen Männer rissen die Zaunlatten von der Alleeumfriedung und verteilten sie als Waffen. Draser Eduard, der größte und stärkste Mann im Ort, hatte sich ein langes Holzscheit aus dem Schulhof gegriffen und fegte damit rund um sich, daß die Rumänen und Zigeuner das Weite suchten. Unsere Leute verfolgten sie und riefen ihnen nach: "Schert euch in eure Dörfer, und laßt uns unser Eigentum!" 

Nun wurde auch mein Vater geholt, der die Polizei abhalten konnte, in die Menge zu schießen, denn das wäre nur Öl ins Feuer gewesen, und es hätte Tote auf beiden Seiten gegeben. Dann überzeugte Vater unsere Leute davon, daß mit Gewalt nichts zu erreichen sei und wir bedenken müßten, daß, wenn es auch nur einen Toten gäbe, dies unübersehbare Folgen haben würde. Allmählich beruhigte sich die Menge und abends schien es, als sei wieder Ordnung im Dorf eingekehrt. 

Die Strafe für unser Aufbegehren blieb nicht aus: 

Schon am nächsten Morgen wurden der Herr Pfarrer, Schlosser Johann und Stolz Gustav wegen Rebellion gegen die Staatsgewalt verhaftet und schließlich nach Hermannstadt ins Gefängnis gebracht. Daß die drei Männer „schon" nach drei Monaten aus der Salzgasse entlassen wurden, war nicht Zufall. Ein großes Faß voll Reichesdorfer Wein (Keller Nr. 111) hatte die Angeln des Gefängnistores vortrefflich geölt. 

Mit der Festnahme dieser Männer war aber die Niederlage noch nicht gerächt. Am Sonntag darauf holten sich die Parteigenossen Verstärkung aus Mediasch: Zwei Laster mit ungefähr 30 Männern von 18 bis 25 Jahren rollten gegen Mittag ins Dorf, und für die gleiche Zeit hatte man unsere jungen Männer nach Birthälm zur Polizei zitiert. Somit hatten die Kerle aus Mediasch nicht mehr viel zu fürchten. Sie gingen im Rudel durch Reichesdorf von Haus zu Haus und prügelten den nieder, den sie gerade antrafen. Viele schleppten sie ins Rathaus, schlugen sie blutig und nahmen ihnen das Versprechen ab, sich nie mehr den Befehlen der Parteigenossen zu widersetzen. Manche wurden nach der Tortur entlassen, andere bis zum nächsten Nachmittag in den Rathauskeller gesperrt. 

Wir waren damals aus Angst mit einigen Nachbarn in die „Dall" (die dem Rathaus gegen- überliegende Berglehne) geflüchtet, von wo wir die Kanzlei einsehen konnten. Da brach einem das Herz, wenn man sah, wie die Leute zugerichtet waren. Einen alten Mann, Untch Friedrich , hatten sie so geprügelt, daß er zwei Tage danach an den Folgen verstarb. Einem anderen hatten sie den Kopf mit einem Holzscheit eingeschlagen und ihn schwerverletzt liegen lassen. Seine Frau durfte den Arzt erst am Abend holen. Auch dieser Sachse erholte sich nicht mehr und verstarb nach schwerem Leiden zwei Jahre danach. Auch Untch Simon trug von den Mißhandlungen bleibende Schäden davon. 

Nach diesen Ereignissen widersetzte sich niemand mehr den Anordnungen der Parteigenossen, und es konnten sich sowohl die Rumänen und Zigeuner des Dorfes wie auch die Kolonisten (Ansiedler) den sächsischen Hof aussuchen, von dem sie gerade geträumt hatten. 

Dann ging das Begüterungskomitee von Haus zu Haus und fragte ihre Günstlinge, ob sie bereit wären, Haus und Hof mit dem ehemaligen Besitzer zu teilen. Wenn der Sachse Glück hatte, wurde er geduldet und bekam vom neuen „Herrn" das zugewiesen, was der nicht haben wollte. Im anderen Fall wurde er vom Hof gejagt und mußte sich sein neues Zuhause in einer Notunterkunft einrichten. 

Wir gehörten auch zu den „Glücklichen", die den Hof nicht verlassen mußten. Die Schwiegermutter, die rechtmäßige Besitzerin, bekam die Sommerküche, die, nicht unterkellert und mit Zementfußboden, eben nur für die warme Jahreszeit gedacht war. Diese schlechte Behausung war ihrer Gesundheit nicht zuträglich. Die Beschwerden nahmen zu und sie verstarb nach wenigen Jahren. 

Meine fünfköpfige Familie durfte die Küche und ein kleines Zimmer behalten; unsere Mitwohner waren zu dritt, beanspruchten vier große Räume und ließen uns immer wieder wissen, daß sie uns gegenüber zu großzügig gewesen wären. 

Viele Reichesdorfer Sachsen mußten ihre Häuser innerhalb von drei Tagen räumen und wurden in Zigeunerhütten gesteckt. Der Vorteil war dabei, daß sie dort für sich waren und Ruhe hatten. Wer aber geduldeterweise in seinem Haus blieb, der hatte Tag und Nacht keinen Frieden. Auch der Sohn unserer Einwohner versoff sein Verdientes. Kam er dann nach Hause, ging die Schimpferei über die Sachsen los. Wir waren die Hitleristen, die man alle umbringen solle. Dies mußte sich mein Mann, der nur in der rumänischen Armee gedient hatte, ständig wieder anhören. 

Nach einigen Jahren der „ Hausbesetzung " waren die sächsischen Gebäude so ruiniert, daß der Staat einschreiten mußte. Er verteilte zinslose Darlehen an seine Bevorzugten, mit denen die sich eigene Behausungen bauten. Wirtschaftsgebäude brauchten sie nach der Gründung der Staats- und Kollektivwirtschaften keine mehr. Wir Sachsen konnten sehn, wie wir die ent- standenen Schäden an unseren Gebäuden aus eigenen Mitteln richteten. Das Ende vom Lied war, daß wir verschleppt, geschlagen, enteignet und völlig verarmt dastanden und unsere Gegner dem kommunistischen System hoffnungslos in die Falle gelaufen waren. 

Wir durften nach und nach dem Elend den Rücken kehren, um uns irgendwo in der Welt wie- der zu bewähren und uns ein neues Zuhause aufzubauen. Unseren „ Stiefbrüdern" ist das Schicksal weniger gnädig gewesen. Viele Generationen nach ihnen werden noch die Folgen ihres Wahnes auskosten müssen.

Regina Meyndt

 

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