Das Schicksal einer Reichesdorferin

Erzählt von Margarete Zink geb. Waffenschmidt HNr. 30

 

Bei der Durchsicht von Unterlagen, welche die Familie Korth zum Reichesdorfer Heimatbuch zusammengetragen hat, befand sich auch die nachfolgende Lebensgeschichte. Es ist das Schicksal einer Reichesdörferin, die als Jugendliche, mit 19 Jahren, ihren eigenen Weg ging und fern der Heimat, allein auf sich, auf ihre Tüchtigkeit gestellt, ihr Leben, ohne die schützende Familie und die Dorfgemeinschaft, zu meistern versuchte. Die Hochachtung vor ihrer Leistung veranlaßt uns, diese Aufzeichnungen hier wiederzugeben:

Im Juli 1941 verließ ich Reichesdorf mit einem Paß und Ausreisepapieren und kam nach Deutschland. Meine Kleider hatte ich in zwei Koffer gepackt, sie sollten für ein Jahr ausreichen. Ich kam auf einen Bauernhof. Anspruch auf eine Kleiderkarte hatte ich als Volksdeutsche nicht. Es war Krieg und dies bekam ich bald
zu spüren, denn ich war in Rüsselsheim am Main, wo die Opelwerke waren.

Schon nach einer Woche Aufenthalt hatten wir einen Bombenangriff auf die Stadt. Wir waren im Keller in einer Ecke, hier konnte uns nichts passieren. Die Bomben pfiffen. Eine sauste vor dem Haus auf die Straße und eine ging bei dem Wirtschaftsgebäude nieder. Das Haus war recht beschädigt, wir kamen durch das Kellerfenster heraus und sahen die Bescherung. Von diesem Tag an hatte ich Angst und viel Heimweh. In Reichesdorf war es damals noch recht friedlich.

Mit der Zeit gewöhnte ich mich auch an die Arbeit, war doch alles neu für mich, wie auch das Kuh- und Schweinestall-Ausmisten und das Melken (wir hatten daheim keine Kühe). Aber alles lernt man, mit zusammengebissenen Zähnen schafft man vieles. Auf diesem Hof blieb ich bis Oktober 1942.

Meine Mutter, mit Hilfe von meiner Tante (Offner), besorgte mir dann eine Freistelle in der Landfrauenschule Biendorf bei Köthen (Sachsen-Anhalt). Hier war es sehr schön. Wir waren viele Mädchen, die meisten jünger als ich. Das Gebäude war ein älteres Schloß mit schönem Garten und einem Wirtschaftshof, wo wir viel Kleinvieh hatten.

Neben der Direktorin hatten wir sieben Lehrerinnen; die waren sehr streng, aber nett. Ich bin heute noch mit einer in Briefverbindung und will Frl. Schmidt dieses Jahr in Aschersleben besuchen. Viel gelernt habe ich hier und auch schöne Erinnerungen sind mir geblieben. Die Schule war im September 1943 beendet, nun folgte das ländliche Lehrjahr für mich, ich kam nach Stangerode im Harz, auf einen großen Bauernhof. Dort waren vier Arbeiter (Gefangene), zwei ältere Männer aus dem Dorf und ein Melker, der den Kuhstall versah. Weiterhin zwei Mädchen aus Polen, es waren Schwestern. Die kleinere hatte recht viel Heimweh, sie war auch sehr zart. Ich fühlte viel Mitleid mit ihr. Nach diesem Jahr hatte ich vor, heim zu fahren, doch die Freude war bald zerstört. Der Zusammenbruch in Siebenbürgen machte meinem Traum ein Ende.

Wie sollte es nun weitergehen? Mit Hilfe der Beratung für die Deutschen aus dem Ausland wurde ich wieder auf einen großen Hof geschickt, nach Rantrum bei Husum, zu Frau Lotte Harring. Ihr Mann war Soldat, und sie erwartete das vierte Kind. Hier war noch ein Mädchen aus dem Dorf beschäftigt. Ich lernte schnell die anfallende Arbeit. Wir teilten uns die Arbeit: Eine Woche die Stall- und Außenarbeiten, die zweite Woche die Hausarbeiten, darunter war das Kochen und Versorgen der Kinder. Es war eine schöne Zeit!

Im Frühjahr 1945 kamen dann die Soldaten zurück und Rantrum wurde zum Durchgangslager bestimmt. Hier erhielt ich das erste Lebenszeichen von daheim. Wie der Brief durchgekommen war, weiß ich nicht, ich nehme an durch das Rote Kreuz und die Schweiz. Hier wurde mir mitgeteilt, daß meine Geschwister und all die jungen Leute unseres Dorfes nach Rußland verschleppt worden waren.

Im Frühjahr 1946 bekam ich Urlaub und fuhr, ohne eine Bescheinigung von der Behörde, in die US-Zone. Alles ging gut. In Fronhausen besuchte ich Lisi Untch, ich kam noch vor dem „Zapfenstreich" da an. Damals durfte man nach 21.30 Uhr abends nicht mehr auf der Straße sein. Am nächsten Tag fuhren wir dann zu dritt nach Marburg. Bei dem Verlassen des Zuges war die Streife da und fragte nach dem Ausweis. Nun saß ich in der Tinte, mußte gleich mit zum Verhör. Ich war aber nicht allein, es waren viele hundert Leute dort ohne Ausweis. Ich bekam eine Strafe von 50,- Reichsmark und einen Schein mit der Auflage, daß ich innerhalb von 24 Stunden die US-Zone nach Norden wieder verlassen müßte. Ich fuhr zu Lisi, um meinen Koffer zu holen, dann über Kassel nach Hamburg. In dem Zug fragte mich ein junger Mann, woher ich käme. Ich erzählte von meinem Mißgeschick, und er riet mir, in Kassel zur Behörde zu gehen, denn dort würde ich die Zulassung gleich bekommen. Das klappte dann auch recht gut, und ich fuhr zurück zu Lisi.

Nun machten wir beide ein paar Tage Urlaub; wir fuhren nach Rüsselsheim zu Fräulein Seipel (wo ich das erste Jahr verbracht hatte). Hier holten wir „Proviant" für die Weiterfahrt nach Coburg, wo wir Landsleute und Verwandte von Lisi besuchen wollten. Auch besuchten wir einen „Landser", der sich in Reichesdorf bei dem Zusammenbruch versteckt hatte. So erfuhren wir mehr von unseren Leuten aus der Heimat. Wir waren so abgeschlossen von all unseren Lieben, daß wir alles wagten, um etwas über sie zu erfahren. In Coburg blieben wir dann ein paar Tage und hatten unsere Landsleute gesehen. Wir hatten auch eine große Enttäuschung, von der ich nichts erwähnen will, denn die Leute sind nun tot. Gott segne ihren Frieden!

Danach fuhr ich mit Lisi zurück nach Rüsselsheim, wo wir noch ein paar nette Tage hatten. Lisifuhr dann nach Fronhausen zurück. Ich suchte mir in Rüsselsheim wieder eine Arbeit, denn ich vertrug das rauhe Klima im Norden nicht so gut. Wiederfand ich Beschäftigung auf dem Bauernhof bei Karl Damm und Familie. Bei den Bauern bekam man gutes Essen. Die Zeiten nach dem Krieg waren recht mager.

Im November erhielt ich dann einen Brief von meinem Vetter M. Offner, der mir mitteilte, daß er, von Rußland zurück, jetzt in Ostdeutschland sei. Ich packte wieder den Rucksack mit Eßwaren und allem, was ich entbehren konnte und fuhr schwarz über die Zonengrenze nach dem Osten. Auf einer Station traf ich mit Lotte Harring zusammen, sie hatte ihren Mann in der französischen Zone besucht. So klein ist die Welt! In Halle mußte ich ein paar Stunden auf den Anschluß warten. Den Tag werde ich nie vergessen, denn ich sah russische Frauen in Uniform mit dem geschulterten Gewehr. Dies machte mir Angst. Meinen Vetter traf ich als alten Mann mit langem Bart an. Ich erkannte ihn nur an der Stimme. Hier im Dorf waren dann noch andere Landsleute, Schulkameraden und mein Vetter H. Waffenschmied!. Leider konnte ich nur ein paar Tage bleiben. Auf der Rückfahrt besuchte ich meine Lehrerin in Aschersleben und Familie Körber in Stagherode. Dies war ein schönes Wiedersehen, wel- ches ich nie vergessen werde.

Zurück ging es wieder nach Rüsselsheim, denn ich mußte mein täglich Brot verdienen. Weihnachten kam, und es sollte ein wenig für das Fest vorbereitet werden. Die Damms hatten zwei Kinder, so war immer Leben im Haus. Auch lernte ich hier ein nettes Mädchen kennen, sie hatte während des Krieges auf dem Hof das Pflichtjahr gemacht. Ihr Vater war arbeitslos. Sie verdiente zusätzlich etwas, vor allem Lebensmittel, wie Gemüse, Kartoffeln und Milch. Am Weihnachtstag, es war mein freier Tag, kam ich von meiner Freundin Gertrud zurück, ging in den Stall um „Hallo" zu sagen, da sagte Frau Damm: „ Geh mal
herein, du hast Besuch bekommen". Es war M. Offner mit seinem Freund Martin Zink, sie waren von Osten nach dem Westen ausgerissen und wollten nicht nach Rumänien zurück. Sie wollten ihr Glück im Westen versuchen.

Nach einem Jahr packte mich wieder die Wanderlust. Ich verließ Rüsselsheim im April 1947 und bekam eine Arbeit in Weißenhorn/Bayem in der Gärtnerei Ziegler. Es machte mir viel Spaß, da ich die Blumen sehr liebe. Überhaupt ist Gartenarbeit mein Steckenpferd.

In der Zeit pachtete M. Offner und sein Freund Zink einen Bauernhof in der Nähe./Sie wollten ihre Familien aus Siebenbürgen herausbekommen. Im Sommer 1948 klagte er über so viel Arbeit, daß ich meine schöne Beschäftigung in der Gärtnerei aufgab, um ihm zu helfen. Es ist ja oft so, „ Wenn es dem Esel zu gut geht, geht er aufs Glatteis!"

In der Zwischenzeit lernte ich meinen Mann kennen. Er war der Neffe von M. Zink, der mit M. Offner in Rußland war. Stefan kam mit einem Transport 1947 aus Rumänien in die Ostzone und von dort nach dem Westen. Er arbeitete zu der Zeit, als ich ihn kennenlernte, für die Amerikaner in Wiesbaden. Im Herbst 1948 feierten wir unsere Verlobung auf dem gepachteten Hof. Im Frühjahr 1949 kam ich wieder nach Rüsselsheim und bekam eine Arbeit in der Glanzstoff-Fabrik in Kelsterbach am Main.

Den Sommer planten wir dann unsere Ausreise nach Kanada. Stefan fuhr bereits im Oktober 1949 nach Lavington zu einem Farmer. Sein Onkel kannte diese Leute, denn er selbst war 1928-33 hier in dieser Gegend gewesen. So wurden unsere Pläne für die Auswanderung gemacht. Ich folgte Stefan dann im Mai 1950 als seine Braut. Das Gesetz sagte damals, daß wir 30 Tage nach der Landung heiraten mußten! Die Farmersfrau richtete uns eine Party aus, zu der etwa 40 Gäste eingeladen waren. In der lutherischen Kirche wurden wir in deutscher Sprache getraut. Es leben viele Deutsche hier von überall, aus Polen, Ungarn, Rußland und Rumänien. Die englische Sprache lernten wir dann, nachdem wir für englische Leute arbeiteten. Die Menschen hier waren sehr freundlich und hilfsbereit. Mein Mann arbeitete später im Wald, wo ein besserer Verdienst war als bei dem Farmer. Ich machte Hausarbeit, putzte Wohnungen für reiche Leute. Mein Mann hatte dann im Jahre 1953 einen Unfall im Wald, als wir gerade unser erstes Kind bekamen. Als Baby war unser Mädchen mehr im Krankenhaus als daheim. So war der Anfang nicht so leicht für uns, aber mit Gottvertrauen und seiner Hilfe schafften wir alles gut.

Da mein Mann seinen Arbeitsplatz nicht halten konnte (Schwindel, Kopfverletzung), fingen wir an, unser erstes Haus zu bauen. Im Mai 1954 zogen wir ein. Ein Siebenbürger ist geschickt in allen Arbeiten. Er zeichnete auch den Hausplan. Viele Junggesellen halfen am Wochenende und bekamen ein gutes Essen am Abend. Es waren schöne Tage. Später half Stefan auch bei jedem zurück, wenn sie das erste „Nest" bauten. Wir haben alle klein angefangen, es war ein schwerer Anfang, aber es war doch schön.

Jetzt wohnen wir im dritten Haus, welches mein Mann gebaut hat. Dazu haben wir 2 Hektar Land mit Obstbäumen darauf. Wir haben eine sehr schöne Aussicht auf den See und die Berge. Uns gefällt es hier recht gut. Auch haben wir oft Besuch, auch aus Deutschland. Im Sommer (Juli) feiern wir unseren 40. Hochzeitstag, es wird ein Fest geben, und unsere Kinder kommen dann alle heim. Eine Gartenparty ist geplant. Die Nachbarn und Freunde helfen alle mit. Wir hatten eine ähnliche Party vor drei Jahren bei den Nachbarn. In der zweiten Woche im September kommt eine Reisegruppe aus Deutschland. Da sie drei Tage Aufenthalt in Vemon haben, wird bei den Nachbarn eine Grillpaty gemacht. Den Leuten bleibt dann eine schöne Erinnerung.

Siebenbürger sind hier nur drei oder vier Familien. Wir haben hier auch einen deutschen Verein und kommen vier- bis fünfmal im Jahr zusammen. Erst am 3. Februar hatten wir einen schönen Abend. Mit einem guten Essen fing es an. Ab 21.00 Uhr wurde für fünf Stunden bei guter Laune und Stimmung getanzt.

Ich könnte noch viel mehr erzählen, aber es soll vorläufig reichen.
Im Frühjahr komme ich zum fünftenmal nach Deutschland.

Margarete Zink

 

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