So haben wir überlebt

Erzählt von Horst Rampelt

 

Nachdem ich in Rußland ein Mädchen mit Namen Pinnes Katharina kennenlernte, das später meine Frau wurde und dam aus Reichesdorf HNr.236 stammt, erlaube ich mir, einige meiner Erlebnisse in Rußland zu den Reichesdorfer Geschichten beizutragen. Da schon einige Beiträge geschrieben worden sind und ich beim Durchlesen dieser festgestellt habe, daß sich die meisten mit den Themen Aushebung, Transport, Ankunft, Essen (wenn man das auch nicht immer so nennen konnte) usw. beschäftigt haben, möchte ich ein anderes Thema behandeln, nämlich den ureigensten Trieb des Menschen: die Selbsterhaltung. 

Es wurde in anderen Beiträgen schon erwähnt, daß im Lager Nr. 1048, Konstantinowka, etwa 1200 Menschen auf engstem Raum lebten und außer den Sathmar-Deutschen, (von uns „Ungarn" genannt) alle aus Mediasch und den umliegenden Gemeinden stammten. Darunter war auch der Pfarrer von Pretai und spätere Stadtpfarrer von Mediasch, Prof. Hans Scherer, der mit einem Satz etwas aussagte, was bald zum Leitmotiv der meisten Lagerinsassen werden sollte. Auf die Frage, ob es denn in dieser Lage eine Sünde sei - ins- besondere Eßbares - zu klauen, gab er zur Antwort:

 „Ja, aber eine viel größere Sünde ist es, Selbstmord zu begehen. Und wer nicht bereit ist, sein Leben zu erhalten, der begeht eben Selbstmord". 

So diktierte der beißende Hunger das Handeln der meisten Insassen in den nächsten Jahren. Sicherlich war es nicht jedem gegeben, sich von Anfang an in derartige, uns bis dahin ganz fremde Dinge, einzulassen, aber mit der Zeit lernte man es und wußte Bescheid. 

Ich selbst gehörte zu den Jüngsten. Kaum 17jährig wurde ich verschleppt und musste zuschauen, wie ich zurechtkam. Schon bei der ersten Entlausung, zu der wir einen 10-km-Marsch durchstehen mussten, ging mein Esslöffel, den man stets bei sich trug, verloren. Er war in der Entlausungskammer aus meiner Hosentasche gefallen und ich hatte nun nichts mehr, womit ich essen konnte. Ein großes Problem, weil man doch nirgendwo einen anderen kaufen konnte. Ein älterer Mann erbot sich, mir einen zu verkaufen, weil er zwei besaß und wollte dafür 20 (zwanzig) Rubel haben. Ein horrender Preis! Ich mußte ihn zahlen, denn ich hatte keinen anderen Ausweg. Deshalb sei sein Name auch nicht erwähnt. Er hat später auch Geld zu Wucherzinsen verborgt, was ihm nicht gerade die Hochachtung der Mitinsassen eintrug, aber er tat es ja auch nur, um zu überleben. 

Das Erlernen der russischen Sprache (in der ersten Zeit war es ja nur ein „Sich Verständlich-Machen") bereitete große Schwierigkeiten. Mit Händen und Füßen wurde gestikuliert, und man versuchte in irgendeiner Fremdsprache (wir konnten ja rumänisch, einige von uns auch ungarisch), ein Wort zu sagen, das der Russe versteht. Manchmal klappte es, doch hatte es meistens einen ganz anderen Sinn. 

Die Jahre 1945 und 1946 vergingen trotz Hunger und Kälte, doch der darauffolgende Winter 1946/47 übertraf alles, was bis dahin von diesen beiden bittern Begleitern zu spüren gewesen war. Zum ersten waren unsere Reserven schon lange dahin und zum anderen wurden die Köchinnen und Offiziere immer frecher und stahlen, um auch zu überleben, immer mehr, so daß für uns immer weniger übrig blieb. Und die Läuse und Wanzen mußten sich auch voll- saugen, um zu überleben und fraßen uns dabei fast auf. 

Im Herbst, wenn der Mais reif war, gingen wir zu zweit, oft auch zu dritt, mit dem Rucksack in irgendein Maisfeld, um etwas Eßbares zu ergattern. Oft lag der Acker 15-20 km weit vom Lager entfernt. Wenn man von der Arbeit heim kam, sonderte man sich von der Gruppe ab und verschwand. Man mußte sich den Hamstergang aber so einteilen, daß man mit der Nachmittagsschicht, also 12.00 Uhr nachts, ins Lager hineinging. So versuchten wir, uns einen Vorrat zu besorgen, aber es reichte trotzdem vorne und hinten nicht, der Winter war eben zu lang. 

Der Winter und das darauffolgende Frühjahr 1947 hatte viele von uns hinweggerafft. Ich war auch eine Zeitlang im Beerdigungskommando und weiß noch, wie und unter welchen Umständen die Toten beerdigt wurden. Der Boden war über einen Meter tief gefroren, und wenn man mit der Spitzhacke einschlug, sprang ein höchstens nußgroßes Stückchen Erde frei. Wieviele Hiebe es wohl benötigte, um ein Grab auszugraben, brauche ich nicht noch extra auszurechnen. Doch muß ich im selben Atemzuge auch sagen, daß kein Grab tiefer als einen Meter gemeißelt wurde. Erstens starben zu viele und zweitens war es unmöglich, an einem Tag tiefer zu graben. Oft wurden auch drei Leichen in ein Grab gelegt. 

Irgendwie kam das Frühjahr dann doch, und wer noch konnte, holte sich bei Nacht aus den umliegenden Gärten, die am Tage in die Erde gesetzten Kartoffeln heraus und kochte sie. Man wollte doch überleben. Auch die Katzen wurden gefangen und verzehrt. Wenn man ihrer habhaft werden konnte, war das ein ganz besonderer Leckerbissen. So hatten wir schon wie- der etwas Kraft gesammelt, und der Sommer kam. 

Eines Tages wurde eine Gruppe von acht Mann gebildet, ich war als Jüngster auch darunter. Die anderen waren alle gestandene Männer im besten Alter. Wir sollten auf die Kollektivwirtschaft namens Schirokij Schleach (Breiter Pfad), etwa 20 km von unserem Lager entfernt, verfrachtet werden, um dort bei der Vorbereitung der Kartoffelernte zu helfen. Das Getreide war schon geerntet und gedroschen. Dort angekommen, gab es erst einmal reichlich zu essen. Das blieb dann auch die nächsten zwei Wochen so, und dafür leisteten wir gute Arbeit, zur Zufriedenheit des Vorsitzenden. 

Eines Morgens regnete es in Strömen und die Kumpanen wollten liegen bleiben, um sich mal auszuruhen. Doch mir ahnte, daß es heute etwas Besonderes geben würde. Und das kam dann so: Der Brigadier stand auch schon in unserem „Schlaf gemach", es war der Viehstall, der im Sommer sowieso leer stand. Er brauchte ein paar Mann zum Getreidereinigen im Magazin. Gleich dachte ich mir, da gibt es was zu holen und meldete mich. Die anderen kamen dann auch, und es hatte sich wirklich gelohnt. Nun braucht man nicht zu lächeln, wenn man das mit heutigen Augen betrachtet, wo es soviel Bankraub und andere Einbrüche gibt. Am Schluß dieser Arbeit hatte jeder von uns ein Viertel (20 Liter) Weizenkörner in seinem Versteck unter dem Kissen im Stall. Und das gab uns die Gewißheit, auch im Lager eine Zeitlang nicht mehr hungern zu müssen. Die schlechten Monate waren ja noch lange nicht vorbei. Was fuhr uns aber schon am nächsten Tag für ein Schrecken durch die Glieder, als ein Lastauto vom Zinkkolchos kam und uns abholen wollte. Man benötigte uns dort dringend, denn diese Wirtschaft unterstand der Zinkfabrik, TM der auch unser Lager gehörte. Wir bangten schon um unsere Vorräte und waren heilfroh, als der Laster mit anderen Dingen vollbeladen wurde und für uns kein Platz, mehr frei war. Man versicherte uns aber, daß wir am nächsten Morgen abgeholt würden. Den ganzen Abend berieten die Älteren unter uns, wie diesem Abtransport vorzubeugen wäre, und man kam zu dem Entschluß, am nächsten Morgen vor Tagesanbruch loszumarschieren: Wir wollten „heim" ins Lager, um unsere erbeuteten Vorräte in Sicherheit zu bringen, selbst wenn man uns nachher wieder holen würde. 

Wir brachen auf, wie wir es uns vorgenommen hatten, mit unserer Beute auf dem Rücken und 20 km vor uns. Dabei hatten wir zwei Möglichkeiten: l. abseits der Straße, wo uns kein Mensch begegnete, oder 2. auf der staubigen Straße zu gehen, wo vielleicht die Möglichkeit bestand, daß ein vorbeifahrender Laster uns vielleicht mitnahm. Man entschied sich für die zweite Möglichkeit. Und wir marschierten und marschierten, die Last auf unserem Rücken wurde immer schwerer und begann zu drücken. Es war wohl schon eine gute Stunde vergangen, als eine dicke Staubwolke sichtbar wurde, die ein sich näherndes Fahrzeug ankündigte. Wir winkten, aber der Laster blieb nicht stehen. Mißmutig gingen wir weiter. Nach einer Zeit kam ein zweiter Laster, der fuhr auch an uns vorbei, hielt dann aber doch, und wir beeilten uns aufzusteigen. Vor Freude merkten wir erst gar nicht, wer bereit war, uns mitzunehmen. Der Fahrer fragte noch: „ Gatowa ? " (fertig ?) und wir antworteten: „ Da "! Doch zu mehr kamen wir nicht, jedes weitere Wort wäre uns in der Kehle steckengeblieben, denn der Laster wendete, und wir fuhren in den Zinkkolchos zurück. Wir sahen uns an und wurden kreidebleich. Daran hatte keiner gedacht. 

Auf dem Zinkkolchos angekommen, ging es zuerst um das Warum und Wieso. Doch besann man sich, Gott sei es gedankt, schnell darauf, daß man uns aus irgendeinem Grund her gebracht hatte. Sie brauchten uns bei der Arbeit. Der Oberingenieur Feodor Feodorowitsch (von uns nur Fäddrewäsch ^Federwisch genannt) teilte uns zum Kartoffelaufladen ein. Etwas Besseres konnte uns gar nicht passieren. Das war ja fast schöner als Weihnachten und Ostern zusammen. Wir aßen und aßen von den Kartoffeln, was uns ins Leder ging. Und wenn ich hier behaupte, daß unsereiner am Tag mehr als einen Eimer Kartoffeln - ob gebraten oder gekocht - verschlang, dann ist es keinesfalls übertrieben. Getrocknetes Kartoffellaub war genügend vorhanden und das brannte hervorragend. In diesem Herbst hatten wir soviel an Kraft und auch an Gewicht zugenommen, daß man es selbst kaum glaubte. 

Nun noch eine andere Begebenheit: 

Es war Mitte Juni 1947, als sich eine Kommission zur Kontrolle im Lager angekündigt hatte. Bei solchen Gelegenheiten war es Brauch, daß man die Schwachen und Unterernährten irgendwohin verfrachtete, wo die Kommission sie nicht sehen konnte. Diesmal kamen sie auf den Zinkkolchos, wo die Tomaten gerade heranreiften und gepflückt werden mußten. Diese Arbeit konnten auch die Allerschwächsten verrichten. Ich war auch darunter und auch meine spätere Frau Katharina, doch damals sahen wir uns kaum an, unsere Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt. Wir versuchten unsern Hunger mit Tomaten zu stillen und aßen diese deswegen massenweise, was unserer Verdauung sicher nicht zuträglich war. Daß eine Ruhrepidemie ausbrach, mag bestimmt nicht allein daran gelegen haben. Wir waren unteremährt, unsere Körper hatten keine Abwehrkräfte mehr und vor Hunger mißachteten wir auch alle hygienischen Regeln. Auch Katharina wurde schwer krank.. 

Als man mit den auf dem Kolchos zur Verfügung stehenden Mitteln der Lage nicht mehr Herr werden konnte, verfrachtete man die Kranken alle zurück ins Lager. Katharina schlief im Krankenrevier drei Tage und drei Nächte ohne Unterbrechung. Als sie wieder aufwachte, war die Krisis überstanden, und sie erholte sich nach und nach. Man hatte sie schon aufgegeben, und irgendeiner hatte dies auch schon heim geschrieben. Doch ihre Mutter wollte das nicht wahr haben. Sie war stark im Glauben und fest davon überzeugt, daß sie ihre Tochter wiedersehen wird. Sie sollte recht behalten. 

Der liebe Gott hat uns auch in dieser äußerst schweren Situation nicht verlassen. Wie durch ein Wunder haben wir Hunger und Kälte überstanden. 

Mein Beten 

Mein Beten ist ein Danken
aus tiefstem Herzensgrund;
dem Bitten setz ich Schranken;
bescheiden sei mein Mund.


Dein Name war mir Leuchten
in Überlebensnot
ich lag in Deinen Händen,
sonst war ich längst schon tot.


Dein Segen macht mich glücklich!
fühl' heilig ihn in mir,
so will ich betend täglich
mich anvertrauen Dir.


Richard Martin Sonnleitner, aus „Wonnit ställ uch Owend wid" Gedichte im Eigenverlag

 

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