Weihnachten 1929 in Reichesdorf

Erzählt von Mathilde Korth, geb. Wagner

 

Die dunkle Jahreszeit brachte, wie überall auf der Welt, für alle viele besinnliche Stunden. In der Landwirtschaft konnten sich die Bauern eine Atempause gönnen. Die Frauen durften aber die Hände nicht in den Schoß legen. Nun verlangte der Spinnrocken sein Recht. In Gesellschaft mit Nachbarinnen und Freundinnen wurde fleißig gesponnen. Dazu erzählte man viele alte Geschichten und auch die letzten Dorfneuigkeiten. Aber man mußte fleißig an der Arbeit bleiben, denn bis Anfang Februar sollte das Garn fertig sein, um die Bauernregel "Maria Lichtmeß (2. Febr.) Spinnen vergiß" einzuhalten. Dann mußte die Spindel weg, und der Webstuhl kam ins Haus. 

Die Reihenfolge sollte eingehalten werden, denn eine Arbeit drängte die andere. Dazwischen lag das heilige Fest. Wir Kinder hatten außer den Schularbeiten keine besonderen Aufgaben. Wir waren mit unseren kleineren und größeren Weihnachtswünschen beschäftigt und waren glücklich, wenn uns das Christkind beschenkte. Mein Vater konnte mit Holz gut arbeiten und überraschte uns oft mit unerwarteten Spielsachen, die er fertigte. Mit einem doppelten Schaukelpferd hatte er sich wohl selbst übertroffen. Nach 70 Jahren denke ich mit Wehmut daran. Wo es wohl geblieben ist? Meine Mutter hatte sich auf Stofftiere und Stoffpuppen spe- zialisiert. Sie hat sich, wenn wir schliefen, an die Nähmaschine gesetzt und dem Christkind bei der Arbeit geholfen. Heute weiß ich ihren Arbeitseinsatz viel besser zu schätzen. Aus selbstgegerbtem Kaninchenfell nähte sie uns Kragen und Handschuhe, die in den strengen Wintern sehr gefragt waren. 

So kam allmählich der Weihnachtsabend heran. Der Winter hatte lange schon Einzug gehalten, der Schnee knirschte unter den Fußsohlen. Mutter holte die Kaninchenkragen aus der Truhe und zog uns warm an. Vater sollte mit uns Kindern vorangehen, damit wir uns bei den Großeltern vor dem Kirchgang noch aufwärmen konnten, sagte sie, denn bei uns war noch der Weihnachtsbaum zu schmücken und dabei mußte sie doch dem Christkind helfen. Als dann die Glocken läuteten, ging Vater mit uns zur Kirche. 

Der große, schöne Weihnachtsbaum ließ uns staunen. Wie war der da hereingekommen? Die Orgel erklang, der Eingangschoral "Er kommt, er kommt der starke Held voll göttlich hoher Macht" erfüllte uns mit großer Andacht. Als dann der Chor von der halbdunkeln Orgelempore "Stille Nacht, heilige Nacht" sang, glaubten wir, die Engel selber singen zu hören. Die Schulkinder sagten Weihnachtsgedichte auf und sangen ihre schönen Lieder. Dann kam das große Ereignis: Alle Kinder, groß und klein, gingen zur Bescherung schön in einer Reihe um den Altar, auf der andern Seite warteten Frauen mit großen Körben, und für jedes Kind gab es ein Geschenk: ein Taschentuch mit Weihnachtsmotiv, ein Lebkuchenherz und auch Süßigkeiten. Die Schulpflichtigen bekamen Hefte und Bleistifte. Diese Geschenke waren der Fürsorge des Frauenvereins zu verdanken.

Auf dem Heimweg hatte es Mutter wieder eilig, weil sie nun dem Christkind das Fenster öffnen mußte. Unser Bäumchen war klein und mit bunten Papierketten, vergoldeten Nüssen, Äpfeln und Fondant-Bonbons geschmückt. An der Spitze war ein " Glitzer-lämpchen" angebracht, so nannten wir das sternähnliche Gebilde. Wir waren glücklich und sagten unsere eingeübten Gedichte auf. Bei den Weihnachtsliedern summte meine unmusikalische Mutter sogar mit. Als wir größer waren, trat Ernüchterung ein. Wir selbst wurden zu Darstellern und wussten dann, dass es nur Menschen waren, die von der Empore sangen. Etwas von dem bezaubernden Gefühl kehrte aber alle Jahre wieder und findet sich auch heute immer wieder bei mir ein. Wir feierten als Schulkinder in der großen Draser-Familie bei Großmutter Weihnachten, mit allen Geschwisterkindern. 

Dreiundzwanzig waren wir, die wir dort die Weihnachtsmänner (verkleidete Jugendliche mit Maske und Barten aus Hanf) erwarteten und ängstlich, aber artig unsere Gedichte aufsag- ten. Von den Gefürchteten gab es dann einen Apfel, Nüsse und manchmal auch etwas Süßes. In diesem großen Kinderkreis war es nie langweilig. So durften wir bis Mitternacht aufbleiben, um die Weihnachtschoräle zu hören, die die Adjuvanten in alle vier Himmelsrichtungen vom Turme bliesen. Auf dem Heimweg waren wir dann müde, überwältigt von all dem Schönen, das wir erlebt hatten und es fröstelte uns sonderbar. Der zweite Feiertag gehörte unserm Steff-Onkel, der Namenstag hatte. Bei ihm waren wir wieder alle versammelt und konnten nach Herzenslust spielen und feiern. 

Am Neujahrstag gingen die Kinder zu ihren Paten und Verwandten, um ihnen ein gutes neues Jahr zu wünschen. Wir erhielten dafür auch ein kleines Geschenk, gewöhnlich etwas Geld für das Sparschwein. Vorher mußten wir aber unsern Wunsch in Gedichtform vortragen. Der einfachste lautete:

" Ech wünschen ach en gät noe Gör,
en Giis mät gröem Hör,
en Zapp mät enem Huren,
geht mer en Lei, ech bän gefrühren." 
"Ich wünsche Euch ein gutes Neujahr,
eine Ziege mit grauem Haar,
einen Ziegenbock mit einem Horn,
gebt mir einen Leu, ich bin gefroren." 
 

Mathilde Korth, geb. Wagner

 

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