Fünf Jahre Zwangsarbeit in Rußland

Erzählt von Anna Alzner geb. Nemenz
Redaktion: Andreas Nemenz

 

Der Aufforderung folgend, einen Beitrag zu leisten, hat meine Schwester ihre Erinnerungen an die verlorenen Jugendjahre in russischer Deportation niedergeschrieben. Sie beginnt, mir diese vorzulesen und schon bereue ich, die Bitte an sie gerichtet zu haben. Sie stockt, kommt nach den ersten Sätzen nicht weiter, sie weint und bebt am ganzen Körper. Die Erinnerungen überwältigen sie. Ich rate, die Lektüre abzubrechen, denke an ihr krankes Herz. Wir lassen sie ruhig weinen, und alle, die wir am Tisch beisammensitzen, weinen mit. Diese Pause tut gut, führt in die Gegenwart zurück. Wir lenken das Gespräch in andere Bahnen. Eigentlich wären die folgenden Aufzeichnungen gar nicht mehr nötig gewesen, wenn man ihre Gemütsbewegung in Worte fassen könnte. Was hat sie mitgemacht und ertragen müssen, wenn nach mehr als fünfzig Jahren alles noch so lebendig in ihr hochkommt? 

Ich ziehe mich zurück und lese alles, was sie da nüchtern zu Papier gebracht hat, unter dem Eindruck ihrer Gemütserregung von vorher. Die Worte reichen nicht aus, diese wiederzugeben. Sie beginnt Einzelheiten zu erzählen, um einiges zu erklären. Und wieder laufen ihre Augen über. 

Liebe Landsleute, Betroffene und Nichtbetroffene der Rußlanddeportation, ich schreibe diese einleitenden Worte zu den Erinnerungen meiner Schwester, um zu unterstreichen, daß es ihr nur teilweise gelungen ist, die damals ertragene Not und Pein zu schildern, daß alles viel schrecklicher war und daß das Erlebte auch heute noch immer wieder in grauenvollen Erinnerungen lebendig wird. 

Und nun lasse ich sie erzählen: 

Es war am 19. Januar 1945, einem grauen Wintertag, als wir knapp 17jährigen (ich wurde am 18. Dezember 1944 17 Jahre alt) für den dritten Transport ausgehoben wurden. Pflichtbewußt erzogen, fügten wir uns, nicht ahnend, was auf uns zukommen sollte, in unser Schicksal.

Nach zweiwöchiger Fahrt, in Viehwaggons eingepfercht und unter unvorstellbaren hygienischen Bedingungen, gelangten wir abends in Schtscheglowka, einem Ort in der Nähe der Stadt Stalino, an. Am späten Abend wurden wir in dunkle kalte Barackenräume gesteckt. Auf Pritschen, die aus grünem Holz gezimmert und ohne jede Unterlage waren, streckten wir unsere müden Glieder und freuten uns, wenigstens das Geratter der Räder nicht mehr zu hören. Wir legten uns auf unsere mitgebrachten Winterkleider und deckten uns mit der eigenen Decke und hofften, daß alles nur provisorisch sei. Aber wir wurden eines Besseren belehrt. Dieses war und blieb unser Zuhause, und auf diesen feuchten Pritschen haben wir bis kurz vor Weihnachten 1945 schlafen müssen, als dann etwas Streu als Unterlage gebracht wurde. 

Der erste Morgen begann in einem großen Speisesaal, wo hunderte von Menschen sich einfanden. Es gab recht magere Kost: klare, fade Suppen und wenig Brot. Mit Tränen in den Augen wurde alles ausgelöffelt. Es war etwas Warmes, aber ohne jeden Geschmack. Wir ahnten nicht, daß dieses fortan unser tägliches Essen sein sollte. Das von zu Hause Mitgebrachte war auf der Reise und in ein paar Tagen danach schon aufgebraucht. Anfangs reichten auch die Kräfte, aber dann wurde alles schlimmer. Hunger, Heimweh, Kraft- und Hoffnungslosigkeit machten sich breit. Wir versuchten uns gegenseitig zu trösten. Die ältern Männer sprachen uns - noch Kindern - väterlichen Trost zu. Doch dann klappten sie schneller zusammen als wir, denn die Eßportionen waren für alle gleich. Hungrig, die Hände faltend und betend, legten wir uns abends auf unsere Pritschen und hofften auf eine Befreiung. Gab es die für uns überhaupt, wann und woher sollte sie kommen? Diese Tatsache, nichts über unser Schicksal zu wissen (wir wußten nicht einmal wo wir uns befanden, Karte gab es keine), war für mich die größte Qual. Sollte dieses fortan unser Leben sein? Wie lange? Am Ende für immer? Sollten wir unsere Heimat nie wieder sehen? Im Speisesaal sangen wir Heimatlieder und gingen dann mit gebrochenen Herzen schlafen. Für uns 17 jährige war es schwer, aber was empfanden die Mütter, die daheim ihre kleinen, unmündigen Kinder zurückgelassen hatten, oder ihre Männer im Krieg wußten. Es gab keine Nachricht von zu Hause. Manche Männer versuchten zu fliehen und Mütter versuchten es auch. Gefaßt, landeten sie dann im Straflager, wo es noch schlechter war. 

Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann die erste Post von zu Hause ins Lager kam. Der Brief kam aus Birthälm. Wir freuten uns mit diesem  Hans-Onkel, der der glückliche Empfänger war. Ich wagte es kaum zu hoffen, auch unter den Glücklichen zu sein, die ein Lebenszeichen aus der Heimat erhielten. Und wie groß war dann die Freude, als ich Nachricht und sogar Bilder bekam. Ich behütete diese Sachen wie ein Kleinod. Wie soll ich dieses Gefühl beschreiben, wenn man seine Heimat (in einem Brief) in den Händen hält? Nach der harten Arbeit im Bergwerk, der mageren Kost, zog es mich immer wieder auf meine Pritsche, wo meine Heimat, ein kleines Stapel Briefe, auf mich wartete, die ich immer wieder las. Sie waren mein ganzes Vermögen. 

Im ersten Jahr arbeitete ich im Kohlenbergwerk. Ich schob mit einer Russin Waggons in den Schacht. Dort herrschten unvorstellbare Zustände. Von oben tropfte Wasser. Wenn die Füße von den Schienen abrutschten, stand man ebenfalls im Wasser. Wir kamen täglich mit bis an die Knie durchnäßten Füßen ins Lager zurück. Gummistiefel gab es keine. Unsere Füße waren mit Fetzen umwickelt und steckten in Gummigaloschen. Im Sommer ging es einigermaßen. Aber im Winter, bei minus 30 Grad, gefroren diese Fetzen auf dem Heimweg an den Füßen und wurden ganz steif. Wer nicht im Bergwerk schuften mußte, hatte es beim Schneeräumen in eisiger Kälte auch nicht besser. Viele Frauen und Mädchen hatten erfrorene Finger und Zehen, von denen sich das Fleisch löste. Ich glaube, diese zählten in unserm Lager zu den ersten, die mit dem Krankentransport in die Heimat geschickt wurden. Wir waren an diese enorme Kälte nicht gewöhnt und unsere Kleider waren dafür nicht geeignet. Viele meldeten sich freiwillig ins Bergwerk, dort gab es mehr Brot. 

Es kam das Kriegsende. Ich arbeitete wieder Nachtschicht. Da stand am 9. Mai 1945 auf den einfahrenden Waggons groß geschrieben: "Es ist Frieden, morgen ist Feiertag". Wenn das Kriegsende uns auch nichts Gutes brachte, kam doch die Hoffnung auf, daß man uns entlassen würde, eine Hoffnung, die dann in Enttäuschung umschlug. Die Ungewißheit, wann und ob wir überhaupt aus dieser Hölle entkommen würden, blieb, nagte und nagte und zehrte die letzten Kräfte auf. 

Ich verbrachte kalte Februartage im Krankenhaus. Eigentlich waren es Glückstage, trotzdem es auch hier dieselbe magere Kost und keine Wärme gab, geschweige denn Medikamente. Aber wenigstens schuften und an den Füßen frieren mußte man nicht. Aber kranksein wollte man nicht, denn da lauerte die Ungewißheit der Genesung und damit schwand dann jede Hoffnung, da herauszukommen, um die Lieben in der Heimat wiederzusehen. Ins Krankenhaus wurde man nur mit hohem Fieber eingewiesen. Hohes Fieber war typhusverdächtig. Wir lagen in einem großen Raum mit etwa 20 Betten. Hier erlebte ich auch das Sterben einer Freundin. Sie war so schwach und wir unfähig, ihr zu helfen. Bloß tröstende Worte konnten wir ihr schenken und immer wieder sagen, die Hoffnung nicht aufzugeben. Es half nichts. Im Todesschweiß ringend, verlangte sie mit gebrochener Stimme immer wieder nach ihrer Mutter, bat sie um Hilfe und mit diesen Worten auf den Lippen schlief sie ein. Für mich war es Trauer und Angst zugleich, denn ich wußte nicht, ob es mir nicht genauso ergehen würde. Wir waren unterernährt und so schwach, daß wir kaum auf den Beinen stehen konnten. Wenn ich an diese Rußlandzeit erinnert werde, habe ich immer diesen Todeskampf vor Augen und das beklemmende Gefühl von damals, die Angst ist wieder da. 

Die Einheimischen hatten es nicht viel besser als wir. Die Russin Tania, mit der ich Waggons schob, hatte zwei Kinder zu erhalten. Ihr Mann war in Kriegsgefangenschaft. 

Mit der Zeit lockerten sich die Verhältnisse ein wenig. Wir wurden auch nicht mehr so streng bewacht. In den letzten Jahren, 1948 und 1949, erhielten wir auch etwas Geld für unsere Arbeit und konnten uns - wenn überhaupt was zu haben war - etwas zum Essen kaufen. Aus dem Bergwerk durften wir Kohlen zum Heizen ins Lager mitnehmen. Daraus wollten wir eines Tages Geld machen. Meine Freundin und ich nahmen uns jede einen dicken Brocken Kohle unter den Arm und versuchten, diese (wenn auch unter Strafe verboten) zu verkaufen. Wir klopften an manche Tür, konnten aber unsere Ware nicht an den Mann bringen. Nicht, daß die Leute die Kohle nicht hätten brauchen wollen, aber sie hatten nichts, was sie uns dafür hätten geben können. Enttäuscht und müde legten wir die Kohlen einer jüngeren Frau vor die Tür, denn wir mußten pünktlich ins Lager zurück. Uns bedauernd, die Kohle brauchend, brachte sie uns jeder eine Handvoll Steckzwiebeln. Sie war genau so arm wie wir. Es gab unter ihnen auch manches gute alte Mütterlein, das aus Mitgefühl das bißchen Wärme ihres Ofens von Herzen gerne mit uns teilte, denn anderes hatte sie nicht zu bieten. Wir haben sie arm zurückgelassen. Es wollte nicht aufwärts gehen, auch wenn an Sonn- und Feiertagen durchgearbeitet wurde. Die Menschen waren wirklich arm, auch die Offiziere, die uns bewachten. Die hatten nicht einmal Schreibpapier. Sie durchsuchten im Lager unsere Sachen, nahmen uns unser Schreibzeug und alles, was ihnen paßte, auch Bibeln und Gesangbücher. Beim Ausgang wurden wir aufgeschrieben. Sie notierten dies in gedruckte Bibeln oder in manches in Leder oder Samt gebundene Gesangbuch, auf dem "Ein feste Burg ist unser Gott" stand. Ein paar versteckte Exemplare waren uns doch geblieben, die liehen wir uns aus, um darin Trost zu suchen. Ich erinnere mich noch an den Psalm 258, "Ein Christ kann ohne Kreuz nicht leben". Wir hatten das unsere und mußten es tragen. 

Anfang des Jahres 1947 wurden dann unsere Pritschen durch Eisenbetten (aus Rohren zusammengeschweißt) ersetzt. Die waren voll Wanzen. Es half nichts, bei Nacht mit Licht zu schlafen. Die vermehrten sich, es gab bald Unmengen davon, und wer das bevorzugte Blut hatte, mußte besonders leiden. Im Sommer schliefen wir lieber draußen im Lagerhof. In der Freizeit trugen wir die Betten hinaus und suchten nach den Wanzen. Der freie Tag war immer der nach dem 6. Arbeitstag und nicht unbedingt der Sonntag. 

Es gab manchen sternenklaren Himmel, wenn wir aus der Nachtschicht kamen oder manch schönen Sonnenaufgang, den ich in der Hoffnung beobachtete, daß sich dort oben meine Blicke mit denen meiner Lieben in der Heimat träfen. Das erleichterte mich einerseits, wekkte aber auch das Heimweh und immer wieder die bange Frage " Wann kommen wir aus dieser Hölle frei?" Es hieß immer: " Wir werden alle entlassen. " Aber es wurde nichts daraus, und die Verzweiflung steigerte sich. Nach langer Zeit, es war der 6. Oktober 1949, da wurde uns wieder von der Entlassung gesagt. Wir trauten der Sache auch diesmal nicht, hatte man uns doch schon zu oft enttäuscht. Da hieß es aber, alle schriftlichen Sachen, auch Bilder, verbrennen. Das fiel mir schwer. Sollte ich meine über Jahre "gehütete Heimat" aufgeben ? Was mache ich ohne sie, wenn man uns doch nicht nach Hause entläßt? Es wurde dann aber endlich doch wahr. Am 16. Oktober 1949 verließen wir das Lager und kamen am           26. Oktober 1949 in Sighet an. Hier hörten wir, das erstemal nach fünf Jahren, wieder Kirchenglocken läuten. Mit Tränen in den Augen dankten wir Gott für seine Hilfe. 

Vor der Abfahrt aus dem Lager hatten wir uns besprochen, alle zusammen nach Reichesdorf zu kommen. Als wir dann aber nur zu viert für den ersten Zug die nötigen Papiere erhielten, da konnte uns nichts mehr zurückhalten, wir wollten nach Hause, wollten unsere Lieben begrüßen. Wir kamen um die Mittagszeit auf dem Mediascher Bahnhof an, der war menschenleer, niemand war zu unserer Begrüßung da. Aber wir waren glücklich, es geschafft zu haben. 

Vielen ist dieses Glück geraubt worden! Sie mußten in Rußland sterben und wurden dort unter ärmlichsten Bedingungen, in ein Leintuch oder eine Decke gehüllt, ohne die Ansprache eines Pfarrers (der durfte sich in Rußland nicht zu erkennen geben) begraben. Es waren von unserem Lager über hundert Gräber mit schlichten Holzkreuzen, die wir dort zurückgelassen haben. Wie gerne hätten sie alle so nahe am Punkt ihrer Sehnsucht gestanden ? Wie ungeduldig hätten auch sie sich auf das Wiedersehen in der Heimat gefreut? 

Es ist schwer, nach so langer Zeit all das in den fünf Jahren der Deportation Erlebte aufzuschreiben. Aber auch heute noch bewegen mich diese Erinnerungen. Dann sehe ich wieder unsere entkräfteten, mutlosen und jeder Hoffnung beraubten Gestalten und Gesichter.

Anna Alzner

 

 

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